Indiens rasant wachsende IT-Firmen wenden sich einer Region zu, in der sie kaum noch Geschäfte machen: Kontinentaleuropa. Unternehmen wie Infosys, Wipro oder TCS mögen inzwischen weltbekannt sein. Aber nur acht Prozent ihres Umsatzes stammt von Kunden auf dem europäischen Festland. 71 Prozent kommen aus den USA, 14 Prozent aus Großbritannien. Offshoring – die Verlagerung von Dienstleistungen in Niedriglohnländer – ist im angelsächsischen Raum stärker akzeptiert als im restlichen Europa.
Indische Unternehmen sehen Europas Rückständigkeit bei Offshore-Outsourcing als ungenutzte Wachstumschance. Deshalb bemühen sie sich intensiver um Kunden in Europa. In erster Linie haben sie Großunternehmen im Visier. Diese kommen unter Wettbewerbsdruck durch amerikanische Rivalen, die ihre Kosten früher gesenkt haben. „Europa bietet uns große Expansionschancen“, sagt Natarajan Chandrasekaran, Executive Vice President von TCS, Indiens größtem IT-Dienstleister, „und die allergrößte liegt in Deutschland.“
Allerdings haben Firmen wie TCS in Europa höhere Hürden zu überwinden als in den USA: Sprachbarrieren, geringere Risikobereitschaft und schwerfälligere Unternehmensstrukturen sind nur einige. Länder wie Frankreich kommen indischen Unternehmen zudem in die Quere, weil sie ihnen Visa verweigern. „Um Offshoring nach Europa zu verkaufen, brauchen die Inder ein ganz anderes Geschäftsmodell als in den USA“, sagt George Ugeux, Chef der Outsourcing-Beratung Galileo Global Advisors. Kern müsse ein europäisches Gesicht sein.
TCS versucht das. „Wir heuern in Europa mehr lokale Mitarbeiter als anderswo“, sagt Chandrasekaran. Sein Unternehmen ist Vorreiter eines neuen strategischen Ansatzes, mit dem es die Outsourcing-Festung Europa knacken will: Das Unternehmen hat vor zwei Jahren als erstes ein so genanntes „Nearshore“-Entwicklungszentrum in Osteuropa eröffnet, in Ungarn. Satyam, Infosys und Wipro haben nachgezogen. Zielkundschaft der Dependancen sind Unternehmen in Deutschland, Frankreich und den Beneluxländern. Damit umgehen die Inder nicht nur Visafallen. „Wegen der Nähe, der kulturellen Vertrautheit und den Sprachkenntnissen bevorzugen Kontinentaleuropäer eindeutig Osteuropa für Offshoring“, sagt A.T. Kearney-Vice-President Paul Laudicina. Allerdings sind die Löhne dort höher, der Talentpool ist seichter, und vor allem gibt es keine IT-Firmen, deren Management- und Produkt-Know-how an das der Inder heranreicht. Mit dem Aufbau von „Schaufenster“-Töchtern in Osteuropa versuchen diese, Vorteile beider Standorte zu verbinden. Chandrasekaran ist zuversichtlich, dass ihm der Durchbruch gelingt: „Nirgends wächst unser Geschäft schneller als in Kontinentaleuropa“, sagt er – allerdings von einer sehr niedrigen Basis.
Einen Ansehensgewinn konnte TCS dort gerade mit einem Auftrag von Ferrari verbuchen: Der Autohersteller arbeitet nun bei der Entwicklung seiner Rennmotoren mit indischen Ingenieuren zusammen. TCS wird bei den Italienern nicht nur Softwarekenntnis einbringen, sondern auch an der Motortechnik mitbasteln. Von solchen Ingenieursdienstleistungen verspricht sich Chandrasekaran besonders hohe Wachstumsraten. Beim Produkt-Know-how helfen der zur Tata-Gruppe gehörenden IT-Firma Verbindungen zu ihrer Konzernschwester Tata Motors. Diese ist Indiens drittgrößter Autobauer und der führende LKW-Hersteller des Landes.
Mittelfristig dürften auch kontinentaleuropäische Unternehmen stärker auf indische Offshore-Anbieter zurückgreifen, erwarten Experten. „Osteuropas Anziehungskraft als Offshore-Standort wird mit der EU-Osterweiterung bald nachlassen“, sagt Laudicina von A.T. Kearney. Außerdem gäbe es dort viel weniger verfügbare Fachkräfte als in Indien. „Das Lohngefälle zu Osteuropa ist zwar noch nicht groß genug, um Europäer zur Verlagerung von Jobs im großen Maßstab nach Indien zu verleiten“, schränkt Ugeux ein. Andererseits verfügten nur indische Anbieter über ausreichend Erfahrung und Personal zur Abwicklung aufwendiger Großprojekte.
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