Enthüllungsautor Günter Wallraff ist nach einer langjährigen Schaffenspause wieder in verschiedenen Rollen unterwegs. Diesmal: Undercover im Callcenter. Seine ersten Rechercheergebnisse veröffentlicht er in der Wochenzeitung „Die Zeit“. „Ich will zu Callon, dem zweitgrößten Vermarkter von Lotterielosen in Deutschland. Callon ist ein Callcenter, einer der Big Player in diesem neuen Wirtschaftszweig“, schreibt Wallraff und wertet seine Erlebnisse als branchentypisch: „Mehr als 5500 Callcenter gibt es in Deutschland. 400.000 Beschäftigte hatte die Branche 2006, in diesem Jahr werden vermutlich 40.000 Mitarbeiter hinzukommen. Es scheint, als seien Callcenter die Bergwerke der Neuzeit: Zigtausende arbeiten im Verborgenen, werden unsichtbar – und ihre Arbeitsbedingungen auch. Die Branche wächst schnell und verändert sich rasant: Nur noch ein Drittel der Firmen ist mit sogenannten Inbound-Geschäften betraut, nimmt also im Auftrag eines Unternehmens Anfragen, Beschwerden oder Anregungen von Kunden entgegen. Zwei Drittel widmen sich teilweise oder vollständig dem Outbound: Verkaufsgeschäften. Allgemein bekannt ist, dass diese Call Center Lottolose und Zeitschriftenabonnements verkaufen. Weniger bekannt ist, dass sie im Grunde mit allem Möglichen handeln: mit Nahrungsmitteln, Versicherungsverträgen und Hedgefonds. Was auch immer sie verkaufen: In aller Regel ist es überteuert. Fast immer ist der Kunde der Betrogene. Die Callcenter rufen tagein, tagaus bei den Deutschen an – in der Regel ungebeten“, so Wallraff.
Das von ihm inspizierte Unternehmen Callon sei kein schwarzes Schaf, jedenfalls nicht nach dem „Ehrenkodex“ der Branche, den das „Call Center Forum Deutschland„, einer der beiden Lobbyverbände, 2006 festgeschrieben hat. Der Text zitiere zwar das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb, eine Kritik am „Cold Call“, dem Anruf ohne vorherige Einwilligung, sucht der Leser jedoch vergebens. „Nach meinem zehnstündigen Probetag bei Callon wird mir einige Tage später mitgeteilt, dass man ‚trotz meiner Qualifikation aufgrund der Vielzahl der eingegangenen Bewerbungen‘ eine Festanstellung nicht anbieten könne“, formuliert Wallraff.
Diesen Statements widersprechen allerdings Branchenexperten: „Wallraff sind eklatante Missgeschicke bei der Recherche unterlaufen. Die Relation von Inbound und Outbound ist schlichtweg falsch, und den Ehrenkodex Telefonmarketing hätte Wallraff auch genauer lesen müssen. Eine aktuelle Studie der Firma Aspect hat gerade im Frühjahr dieses Jahres aktuelle Zahlen ermittelt. Der Anteil der Outbound-Aktivitäten lag 2005 lediglich bei 23 Prozent und ist in diesem Jahr auf gut 28 Prozent gestiegen. Noch nicht einmal ein Drittel der täglich 20 Millionen Kundenkontakte in Callcentern erfolgen im Outbound, und auch davon nur ein Teil rein verkaufsorientiert“, sagt Call-Center-Forum-Präsident Manfred Stockmann.
Der Ehrenkodex seines Verbandes regelt eindeutig, dass es unlauter sei, einen Verbraucher ohne dessen Einwilligung zu Werbezwecken anzurufen. Um Verstöße zu ahnden, werde eine zentrale Beschwerdestelle eingerichtet. Ein Gütesiegel solle außerdem für Auftraggeber transparent machen, wer sich an den Kodex hält. „Auch die von Wallraff dargestellte Probearbeit widerspricht ganz klar dem Ehrenkodex und dem geforderten fairen Umgang mit Mitarbeitern“, sagt Stockmann. Das von Wallraff besuchte Unternehmen Callon sei zudem gar nicht Mitglied im Call Center Forum. Nach Auffassung von Jens Klemann, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Strateco, finde man in jeder Branche unseriöse Geschäftsleute, die sich ohne moralische Skrupel auf Kosten der Allgemeinheit bereichern wollen: „Im reinen Verkaufsgeschäft tummeln sich auch Betrüger, die aufgrund ihrer Geschäftspraktiken häufiger Namen und Firmierung wechseln. Das hat mit dem Dienstleistungsgeschäft der Branche aber nichts zu tun. Das Gros der seriösen Anbieter legt den Schwerpunkt klar auf den Kundenservice.“
Dass in der Callcenter-Branche wie in allen Branchen schwarze Schafe zu finden sind, lässt sich nach Erfahrungen des Peronalberaters Marc Emde, Geschäftsführer von Kirchconsult http://www.kirchconsult.de in Köln, nicht vermeiden: „Doch Herr Wallraff hat sich von vorneherein eines der Schwärzesten herausgesucht, um in populistischer Manier die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dass in seiner Beschreibung vielfach sachliche Angaben nicht stimmen, kommt noch erschwerend hinzu.“ Insgesamt sei der Rundumschlag unverständlich. „Was spricht gegen 400.000 neue Arbeitsplätze und zehnprozentige Wachstumsraten? Vor allem in Zeiten, in denen die „guten alten Fabriken“ Personal abbauen, Werke schließen oder ins Ausland verlagern? Er selbst beschreibt die Callcenter als staubfrei. Sie seien im Vergleich zu Bergwerken, auf die Wallraff sich bezieht, ohne Gesundheitsrisiken und Unfallgefahr. Man solle die Chancen der Informations- und Wissensgesellschaft nutzen und nicht eine komplette Branche diskreditieren. „Wer soll sich um den Kundenservice in Deutschland kümmern – wenn nicht Mitarbeiter, die ein Telefon bedienen, in dem Thema ausgebildet sind und Kunden ihre Anfragen beantworten. Lieber Herr Wallraf, Sie gehen nicht mit der Zeit. Lernen Sie, zu differenzieren und versuchen Sie einfach mal, guten Journalismus zu praktizieren“, so Emde.
„Wallraff bewegt sich noch in der Callcenter-Steinzeit. In der Regel werden Callcenter in die Gesamtstruktur eines Unternehmens integriert, um einen Kundenservice mit hoher Qualität zu garantieren. Firmen, die über Kaltanrufe nichts anderes praktizieren als Drückerkolonnen beim Verkauf von Staubsaugern oder Zeitschriften, sind nicht überlebensfähig und schon gar nicht repräsentativ“, sagt Bernhard Steimel, Sprecher der Initiative Voice Business. Das Callcenter sei die wichtigste Schnittstelle zum Verbraucher, und die Qualität des Kundenkontaktes entscheide über das Renommee eines Unternehmens. „Und wer hier verbrannte Erde hinterlässt, wie es Wallraff in seiner Undercover-Recherche schildert, wird vom Markt gefegt.“
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