Callcenter: Missbrauch vorprogrammiert

Nicht nur für Insider kommt der Adressskandal alles andere als überraschend. „Alle Insider haben mir bestätigt, dass es gerade die Süddeutsche Klassenlotterie, über die der Staat die Oberaufsicht hat, am allerschlimmsten treibt“, sagte Günter Wallraff bereits vor einem Jahr der Wochenzeitung Zeit, in der er auch seine anderen Undercover-Erfahrungen als Callcenter-Agent veröffentlichte. Wenn der Lotto-Anbieter nun eine Strafanzeige gegen Unbekannt stellt, muss man – angesichts der in der Branche üblichen Praktiken – Scheinheiligkeit argwöhnen.

Seit Jahren führen Callcenter einen mörderischen Konkurrenzkampf um die wenigen lukrativen Aufträge aus der Telekommunikationsindustrie, von Finanzdienstleistern, Stromanbietern, Verlagen und Versandhäusern, bei denen die Kunden anrufen (inbound). Meist aber unterbieten sich die rund 55.000 Callcenter gegenseitig, um wenigstens die weniger beliebten – und eigentlich auch verbotenen – Kaltakquise-Aufträge (outbound) zu ergattern, bei denen sie aktiv nicht nur wechselwillige Telefonierer und Stromabnehmer finden müssen, sondern auch überteuerte Heizdecken an Rentner verhökern – oder in diesem Fall Lose der SKL.

Um die Kaltakquise zu legalisieren, lässt das Callcenter den Adresslieferanten unterschreiben, dass alle Personen auf der Liste einem Anruf zugestimmt haben. Am Rande der Legalität bewegt sich das weit verbreitete Vortäuschen eines seriösen Instituts oder Unternehmens sowie die Deutung eines „Ja“ im Gespräch als Vertragszustimmung. Oft gehen die Agenten aber noch weiter, um die Abschlüsse zu schaffen, die sie brauchen, um einen Job zu behalten, bei dem sie als Scheinselbstständige für gerade einmal 800 Euro brutto im Monat auf Urlaub und andere Sozialleistungen verzichten.

Dafür handeln sie sich aber das volle Risiko ein, weil sie vorher unterschreiben mussten, sich an Recht und Gesetz zu halten. Hier könnte ein gesetzlicher Mindestlohn schwarze Schafe vom Markt fegen, internes Telefonmarketing rentabel machen und die Verantwortung für die Seriosität wieder in die Hand des eigentlichen Anbieters zurücklegen.

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ZDNet.de Redaktion

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