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Stasi 2.0: Private Konkurrenz hängt Schäuble ab

Nun, ich muss zugeben, dass Journalisten ab und zu auch Fehler machen. Heute trifft es mich. So glaubte ich bisher, dass Innenminister Schäuble mit seinen riesigen Datenbanken an Fingerabdrücken, Telekommunikationsverbindungen und vielem mehr eine Gefahr für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellt. Doch weit gefehlt. Mittels moderner Web-2.0-Technologie ist die private Konkurrenz weit voraus.

Über Schäubles Stasi-2.0-Pläne kann das „soziale Netzwerk“ Rottenneighbor.com nur müde lächeln. Dort wird man aufgefordert über seine Nachbarn zu „berichten“. Die Einträge werden übersichtlich in Google Maps dargestellt. Die Portalbetreiber halten sich für eine wichtige Plattform. So könne sich jeder, der einen Umzug erwägt, vorher über die Gegend informieren, ob dort übermäßig viele Einträge zu Kindergeschrei, lauter Musik, Streitigkeiten, Rasenmähen und vieles mehr zu finden sind.

Doch erwartungsgemäß lassen Sozialkompetenz und Toleranz der anonymen Poster zu wünschen übrig. Über ungeliebte Nachbarn wird – nicht selten mit vollem Namen – in einer Sprache hergezogen, die gelegentlich sogar in den Nachmittags-Talkshows deutscher Privatsender „überpiepst“ wird.

Nachdem sich als IM kein Geld mehr verdienen lässt, kann man jetzt immerhin eine ähnliche Tätigkeit zur Berufung machen und aktiv mithelfen, die Preisfindung für Immobilien und Mieten transparenter zu gestalten.

Während in Ballungsgebieten recht viele Einträge zu finden sind, bemerkt man in ländlichen Gegenden eher kleine Inseln mit im Verhältnis zur Bebauungsdichte auffällig vielen „Wohnwertaussagen“. In einer dieser Inseln befindet sich ein rotes Häuschen. Dort wohne ein „komischer Kauz“. Er bringe den Müll nach 20 Uhr weg, stelle zu Nikolaus seine Schuhe nicht hinaus und leere überdies nicht täglich seinen Briefkasten. Außerdem gehe er später als der Durchschnitt zu Bett, sei manchmal unrasiert, habe ab und zu Besuch und träfe sich mit Frauen. Er grüße zwar immer freundlich, aber man wisse schließlich nicht, was er dabei denke.

Darüber hinaus gibt es weitere „Bewertungen“ von Nachbarn im näheren Umkreis. Manche seien Spießer, über andere wird nur gesagt, dass der „Kommentator“ sie nicht mag. Inmitten dieses Sündenpfuhls von roten Häuschen steht ein einzelnes grünes Häuschen wie ein Fels in der Brandung. Der Kommentar lautet: „Hier wohnt ein guter Mensch. Ich selbst“.

Tatsächlich muss der Wohnwert der Gegend wohl als ungünstig bezeichnet werden – weniger wegen des Herrn, der mit den Nikolausbräuchen scheinbar nicht vertraut ist, sondern eher wegen des grünen Häuschens, das doch eigentlich für einen hohen Wohnwert stehen soll.

Doch wen interessiert schon, wie oft der Nachbar seinen Briefkasten leert. Bessere Informationen erwarten den qualitäts- und preisbewussten Verbraucher. Da gibt es beispielsweise in einer deutschen Großstadt ein rotes Häuschen mit der Überschrift „unfreundliche arabischen Drogendealer“. Das Produktsortiment bestehend aus Hasch, Gras und Kokain sei überteuert. Oftmals werde mindestens 20 Euro verlangt. Preisverhandlungen seien ausgeschlossen. Man solle beim Kauf sehr vorsichtig sein. Die „Reinheit“ sei auch nicht die beste.


In Europa gibt es noch vergleichsweise wenig Einträge in Rottenneighbors.com.

Noch ist die „Informationsdichte“ in Europa verglichen mit den USA relativ gering. Offensichtlich erhoffen sich jedoch einige Gewerbetreibende einen interessanten Werbeeffekt. So darf darüber spekuliert werden, ob die Einträge in einer bayerischen Kleinstadt „Sehr gute Änderungsschneiderei – top“, „Hier wohnt ein guter Allgemeinarzt“ und „Alfa Romeo Werkstatt – relativ gut eigentlich und freundlich“ Selbst- oder Fremdeinträge sind. Sogar eher traditionellere Vereinigungen setzen auf das Web-Stasi-2.0-Netzwerk, wie das Beispiel eines graphisch aufwendig gestalteten Eintrags einer Studentenverbindung einer kleinen Universitätsstadt zeigt.

Ich werde jetzt auch beginnen, dieses fürsorglich offene soziale Netzwerk zu nutzen. Schließlich habe ich ein Interesse daran, dass der Wert meines Grundstücks steigt. Ich werde alle Nachbarn in den Himmel loben, wie hilfsbereit sie sind, jeden Tag den Briefkasten leeren und den Rasen mit der Heckenschere schneiden, um keinen Lärm zu verursachen. Die umliegenden Geschäfte werde ich als die besten von Deutschland kennzeichnen und dem Drogenumschlagplatz im Stadtpark bescheinigen, dass es dort nur reinste Qualität zu fairen Preisen gibt. Meine Stadt ist das wahre Paradies.

Wahrscheinlich werde ich dann bald verhaftet werden, wegen illegaler Manipulation der Immobilienmarktpreise. Ich bin ja auch selbst schuld. Was muss ich immer aus rein kapitalistisch-egoistischen Motiven gegen den Strom schwimmen, anstatt wie jeder anständiger Bürger über meine Nachbarn herzuziehen.

ZDNet.de Redaktion

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