Mit der Enterprise-Orientierung von Second Life wurde ein tiefgreifender Schwenk vollzogen: Firmen nutzen die 3D-Online-Welt nicht mehr in erster Linie, um sich dem breiten Publikum vorzustellen, wie das etwa die Dresdner Bank, die Discounterkette Plus, ein Jahr lang die Deutsche Post, die Verlagsgruppe Weltbild und wahrscheinlich am professionellsten und erfolgreichsten Mercedes-Benz zumindest vorübergehend getan haben – und nach Angaben von Linden Lab derzeit immer noch gut 1300 Unternehmen tun.
Der Schwerpunkt der Nutzung der neuen Firmen in Second Life liegt inzwischen auf der Verbesserung der internen Kommunikation – und den damit erzielbaren Kosteneinsparungen. Als einen deutschen Referenzkunden für diesen Einsatz hat Linden Lab den TÜV Nord gewinnen können.
Für Hanno Tietgens, Geschäftsführer des Hamburger Dienstleisters Büro X, der die Einrichtung des Auftritts begleitet hat, haben Firmen in der Vergangenheit nicht verstanden, was Second Life überhaupt leisten kann. Die Idee, die virtuelle Welt lediglich als weitere Anlaufstelle zu nutzen, um potenzielle Neukunden anzusprechen oder bestehende auf einem neuen Kanal zu erreichen, sei gescheitert. Das gelte vor allem dann, wenn das Engagement von der Marketingabteilung betrieben worden sei.
TÜV Nord bei Second Life
Tietgens hat zu dem Termin in München daher mit Frank Boerger, Leiter Client Management beim TÜV Nord, auch einen eigentlich untypischen Repräsentanten für Second-Life-Projekte mitgebracht. Für ihn standen die auf Außenwirkung bedachten Aspekte im Hintergrund: „Zehn Sachverständige aus Polen, Kroatien, der Türkei, Brasilien, Hongkong, Thailand und Indien für eine einzige Schulung einzufliegen, kostet bis zu 27.000 Euro für Flugtickets, plus Spesen, Hotel und über 150 Reisestunden. In Second Life entfällt ein Großteil dieses Aufwands.“
Nicole Sohn, Leiterin der Zertifizierungsstelle für Druckgeräte beim TÜV Nord, bestätigt die Einschätzung des Technikers. „Die Zahl unserer Sachverständigen steigt weltweit. Wir haben deshalb schon lange nach einer preiswerteren und flexibleren Alternative für die Weiterbildung gesucht.“ Dazu hat die Organisation auch einige Möglichkeiten ausprobiert, unter anderem Videokonferenzen über WebEx.
Man habe aber die Erfahrung gemacht, dass die Aufmerksamkeit und damit der Lernerfolg in einer virtuellen Welt größer ist, als bei einer Videokonferenz. Außerdem würden die – bei beiden vorhandenen interaktiven Kommunikationswerkzeuge – bei Second Life intensiver genutzt. Weiter forderten Videokonferenzen oft hohe Investitionen und der Zugriff sei im Regelfall auf wenige Personen beschränkt. Dennoch wird auch dieser Kommunikationsweg noch häufig genutzt.
Der TÜV Nord setzt bei Second Life in einem geschützten Bereich Simulationen und 3D-Visualisierung ein. Darüber realisiert er etwa Ferntrainings und Weiterbildungsmaßnahmen. Der Aufwand für eine Reise der weltweit verteilten TÜV-Experten liege im Schnitt bei 2100 Euro. In den ersten zwölf Monaten der Nutzung seien 52 Reisen obsolet geworden. „Mit Einsparungen von 108.500 Euro wurden die Gesamtkosten für die Erstellung des 3D-Auditoriums in Second Life inklusive individueller Extras, Beratung und Schulung übertroffen“, so Boerger.
„Gepflegtes Auftreten“ – auch virtuell wichtig
Und das, obwohl sich die Nutzung derzeit noch in einem überschaubaren Rahmen bewegt. Von den über 8500 Mitarbeitern der TÜV-Nord-Gruppe in mehr als 70 Ländern haben derzeit lediglich knapp über einhundert einen Avatar zur Verfügung. Statt der vogelwilden Outfits der frühen Second-Life-Jahre bestanden die TÜV-Mitarbeiter auf einem „ordentlichen Aussehen“ ihres virtuellen Pendants: Anzug und Krawatte sollten schon sein, denn schließlich begegnen sie den meisten der virtuellen Gesprächspartner auch im realen Leben immer wieder. Zweite Anforderung war daher eine zumindest ähnliche Darstellung der Gesichtszüge, um so einen Widererkennungswert zu schaffen.
Mit dieser Forderung steht der TÜV Nord übrigens nicht alleine da. Auch bei IBM, einem der engagiertesten Firmennutzer von Second Life, wird von Anfang an Wert auf korrektes Aussehen und Auftreten gelegt.
Zusätzlich zur internen Nutzung hat der TÜV Nord zwei Projekte angestoßen, um Game Based Learning und Edutainment in der virtuellen Welt auszuprobieren. „Selbst komplexe Prozesse werden leicht verständlich, wenn man sie in 3D visualisiert oder als unterhaltsame Aktivität präsentiert“, sagt Boerger dazu. Eingerichtet wurde ein 3D-Lernparcours mit interaktiven Übungen und Prüfsituationen zum Verhalten im Verkehr, eine überdimensionale, virtuell begehbare Brennstoffzelle und ein Parcours mit einem Bodenradar, bei dem Besucher eine Teststrecke absolvieren und Aufgaben zu lösen haben, wie TÜV-Experte bei der Untersuchung von Gelände etwa auf Altlasten.
Damit soll aufgezeigt werden, dass der TÜV neben dem klassischen Geschäft der technischen Kontrolle von Autos auch noch andere Gebiete beherrscht. Die Kompetenz im Umweltsektor soll über eine begleitete Diplomarbeit zum Thema „Carbon Footprint – Energiebilanz eines Avatars“ unterstrichen werden. Das erworbene Wissen wird zudem weitergegeben. Die TÜV NORD Akademie bietet 2010 erstmals Seminare an, um Personalreferenten, Schulungsleiter und Qualitätsverantwortliche mit Web-3D-Schulungen und den Besonderheiten der jungen Medientechnik vertraut zu machen.
Das Goethe-Institut bei Second Life
Ein weiterer deutscher Referenzkunde für Second Life ist das Goethe-Institut. Die Bildungseinrichtung nutzt die virtuelle Welt einerseits, um ihrem Auftrag – der Information zu deutschen Kulturthemen – nachzukommen. Andererseits werden in virtuellen Klassenzimmern, Lernpfaden und 3D-Simulationen interaktive Lernumgebungen für kleine und größere Gruppen geschaffen. Dazu gehören Deutsch-Schnupperkurse und ein täglicher moderierter Deutsch-Lern-Treff in einem virtuellen Café. Ein Mehrwert für die Institution sind gegenüber anderen Onlinemedien die in Second Life möglichen Rollenspiele und Simulationen um Lerninhalte besser zu vermitteln – etwa das Gespräch an der Hotelrezeption oder im Flughafenterminal.
Mit dem von der Münchner Agentur Bokowsky + Laymann betreuten Projekt wollte das Goethe-Institut zunächst die Möglichkeiten ausloten, „die sich durch 3D-Communities für den interkulturellen Dialog und den Spracherwerb ergeben“, sagt Klaus Brehm, Leiter des Internet-Bereichs des Goethe-Instituts. „Aus den Erfahrungen wollen wir Nutzungskonzepte für die Zukunft entwickeln, die genau auf die Bedürfnisse der Second Life-Nutzer zugeschnitten sind.“
Nach einer eineinhalbjährigen Testphase wird es nun erweitert. Dabei soll die Art und Weise der Sprachvermittlung den Möglichkeiten und Bedürfnissen des Mediums angepasst werden. Einer der ersten Schritte war es, dass der Sprachlehrer das virtuelle Klassenzimmer in eine Hotellobby oder ein Flughafenterminal verwandeln kann, um den Sprachunterricht durch interaktive und realitätsnähere Elemente zu ergänzen.
Die Bayerische Staatsbibliothek bei Second Life
Eine weitere Einrichtung, die Second Life intensiv nutzt, ist die Bayerische Staatsbibliothek. Deren Auftritt ist stark an das in München tatsächlich stehende Gebäude angelehnt. Wichtigste Ausnahme: Der Innenhof kann ganzjährig für Veranstaltungen genutzt werden. Und das wird er auch – allerdings weniger für Publikumsereignisse, als vielmehr für Präsentationen und Vorträge die weltweit nur eine geringe Zahl anderer Bibliotheksspezialisten interessieren. Auch dabei ist die Vermeidung von Reisekosten- und zeit ein wichtiges Argument.
Darüber hinaus ist Second Life für Klaus Ceynowa, Stellvertretender Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek, „nicht Selbstzweck, sondern die im Augenblick maßgebliche und komfortabelste Plattform, um im Bereich dreidimensionaler Internet-Technologie zu experimentieren. Wir glauben, dass das 3D-Web in fünf bis zehn Jahren die Zukunft des Internets darstellt und wollen deshalb einfach frühzeitig experimentell erproben, welche unserer digitalen Services geeignet sind, in ein Metaversum transformiert zu werden.“
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