Braucht Microsoft einen Chief Software Architect?


Ray Ozzie: Microsofts letzter Chief Software Architect? (Bild: Ina Fried, CNET.com)

Nach fünf Jahren bei Microsoft hat Ray Ozzie vorgestern seinen Rücktritt angekündigt. Bei Microsoft steht jetzt aber nicht die Frage im Vordergrund, durch wen Ozzie ersetzt werden kann, sondern ob man überhaupt noch einen Chief Architect benötigt. Steve Ballmer hat in einem Schreiben an die Mitarbeiter darauf bereits eine Antwort gegeben: Die Position sei einzigartig gewesen und er plane nicht, sie wieder zu besetzen. Ist das eine weise Entscheidung?

Was Ozzie für Microsoft bedeutet und bewirkt hat, ist nur schwer festzustellen. Er kam 2005 nach Redmond, damals als designierter Nachfolger von Bill Gates. Dieser Anspruch wurde im folgenden Jahr dadurch bekräftigt, dass ihm das Amt des Chief Software Architect übertragen wurde, als Gates sich von seinem Vollzeitjob bei Microsoft zurückzog. Allerdings konnte oder wollte Ozzie Gates nicht eins zu eins ersetzen. Es fiel ihm offenbar schwer, sich in die von internen Grabenkämpfen bestimmte Kultur bei Microsoft einzufinden. Aber auch nach außen hin trat Ozzie, abgesehen von raren Auftritten als Redner bei ausgewählten Veranstaltungen, kaum in Erscheinung.

Unverstanden oder schwer verständlich?

Ozzies Fähigkeiten als Vordenker stehen außer Frage. Womöglich ist er sogar zu schlau für die Mehrheit seiner Mitmenschen, denn er steht für eine ganze Reihe von Produkten, die sich beim breiten Publikum nicht gerade großer Beliebtheit erfreuen. Seine wichtigste Errungenschaft – bevor er zu Microsoft kam – war es, die Software zu entwerfen, aus der später Lotus Notes hervorging, welches 1995 von IBM übernommen wurde.

Obwohl es mit einer Vielzahl völlig neuartiger Ideen und Möglichkeiten aufwartete und immer noch eine beachtliche Nutzeranzahl vorweisen kann, blieb es letztendlich doch weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Fast jede Lotus-Notes-Besprechung der vergangenen 20 Jahre endet sinngemäß mit den Worten: „Obwohl es eine unglaublich mächtige Plattform zum Bau von Anwendungen für die Zusammenarbeit ist, lässt die Benutzeroberfläche doch vieles zu wünschen übrig.“ Die meisten Unternehmen haben wahrscheinlich nie wirklich verstanden, was sie damit alles tun könnten und geben sich damit zufrieden, Notes als E-Mail-Programm und vielleicht noch für Kalenderfunktionen einzusetzen – häufig mit einer Vielzahl von frustrierten und verärgerten Nutzern.

Nach Notes war Ozzies nächstes großes Projekt Groove. Es wurde – zusammen mit Ozzie – von Microsoft gekauft. Die Kollaborationsmöglichkeiten von Groove ergänzten Microsoft SharePoint und wurden Teil der Enterprise-Version von Office 2007. Dennoch arbeiten die meisten Groove-User für Microsoft. Für fast alle „normalen“ Office-Nutzer ist es nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln. Für Office 2010 hat Microsoft die Kernfunktionen von Groove zwar behalten, aber das Produkt abgespeckt und in SharePoint Workspace umbenannt.

Cloud-Prophet Ray Ozzie

Bei Microsoft hat sich Ozzie vor allem als Advokat für Cloud Computing hervorgetan. Vor fast genau fünf Jahren, am 28. Oktober 2005, informierte er die Belegschaft über die von ihm angestrebte Marschrichtung. Seitdem hat sich Microsoft mit Cloud Services viel Mühe gegeben und kann inzwischen ein ganz ansehnliches Portfolio vorweisen.

Verbrauchern bietet es die Windows Live Services an. Exchange und SharePoint sind heute selbstverständlich und nicht mehr nur für Großunternehmen als Hosted Service erhältlich. Unter Ozzies Leitung hat Microsoft zudem Windows Azure entwickelt und eingeführt, eine Plattform mit erheblichem Potenzial.

Der Glanz dieser Einzelprodukte verdeckt aber recht erfolgreich das Fehlen einer übergeordneten Vision. Im November 2009 legte Ozzie auf der Professional Developers Conference Microsofts Pläne für „three screens and a cloud“ dar. Aber immer noch läuft Microsoft auf zwei dieser drei Screens – Telefonen und Fernsehern – hinterher. Sicher nicht zufällig nimmt Ozzie seinen Hut kurz vor dem Start von Microsofts Windows Phone 7.

Noch schlagen die Wellen nicht zu hoch. Immerhin hat Microsoft – gemessen an den Umsätzen mit neuen Produkten – gerade erst eines seiner erfolgreichsten Geschäftsjahre abgeschlossen. Dazu haben vor allem Windows 7 und die Server-Produkte beigetragen. Ozzies weitgefasste Pläne aus dem Jahr 2005 tragen also erste Früchte.

Ozzies Vermächtnis

Was er tatsächlich für Microsoft getan hat, ist möglicherweise aber unterschwelliger und länger anhaltend – und in zwei Absätzen beinahe am Ende eines 2005 verfassten Papiers versteckt. Dort heißt es: „Komplexität ist tödlich. Sie saugt die Lebenskraft aus den Entwicklern, macht es schwer Produkte zu planen, zu bauen, zu testen, führt zu Sicherheitsproblemen und verärgert sowohl Administratoren als auch Anwender. Auf unserem weiteren Weg sollte sich jeder Beteiligte immer fragen ‚was ändert sich?‘, und Technologien aufspüren und aufgreifen, die Komplexität reduzieren. Manche Probleme sind an sich komplex und es gibt sicher keine silberne Kugel, mit der sich die Komplexität in noch vorhandenen Systemen mit einem Schuss reduzieren lässt. Aber wenn neue Aufgaben angegangen werden, ist es hilfreich, auf einen Satz an Vorgehensweisen zur Vereinfachung zurückzugreifen.“

Ozzie weiter: „Viele dieser Werkzeuge sind nicht unbedingt Hochtechnologie. So lassen sich etwa schon durch veränderte Abläufe Releasezyklen verkürzen, wodurch die Ziele und die Komplexität jedes Releases notwendigerweise deutlich eingeschränkt werden.“

Maurer statt Architekten

Steve Ballmer will den Posten des Chief Software Architect nicht mehr besetzen, wenn Ozzie die Firma nach einer Übergangsphase endgültig verlässt. Das ist vielleicht nicht schlecht. An hochfliegenden Plänen hat es in Redmond noch nie gemangelt. In der Vergangenheit beruhten aber die meisten Fehlschläge genau darauf, dass allumfassende Pläne und Architekturkonzepte verfolgt wurden während auf die tatsächliche Entwicklung und Gestaltung des einzelnen Produkts zu wenig Wert gelegt wurde. Das beste Beispiel ist das als Windows Vista auf den Markt gekommene „Longhorn“, das extrem ambitioniert war.

Vielleicht sollte sich Microsoft in den nächsten paar Jahren damit beschäftigen, einige dieser Pläne abzustauben und erheblich zu vereinfachen. Oder kurz gesagt: Wahrscheinlich braucht Microsoft mehr gelernte Maurer, und nicht einen anderen Architekten.

ZDNet.de Redaktion

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