Warum der VATM beim Thema Netzneutralität teilweise falsch liegt

Der Verband der Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten e. V. (VATM) hat heute ein Positionspapier (PDF) mit neun Punkten zur Netzneutralität herausgebracht. Im Prinzip handelt es sich um eine Zusammenfassung, was von vielen großen Providern und Verbänden in den letzten Wochen und Monaten mehr oder weniger koordiniert bereits kundgetan wurde.

In zahlreichen Punkten kann ich nur widersprechen. Bei anderen Punkten frage ich mich, warum sich viele Provider, vor allem Mobilfunkanbieter, nicht daran halten.

Es ist das natürliche Interesse der Betreiber von Netze und Leitungen, selbst entscheiden zu können, wer die verfügbare Kapazität auf welche Weise und zu welchem Preis nutzen darf. Diese Freiheit wollen die Provider für sich beanspruchen. Doch selbst die neoliberale Wirtschaftstheorie nennt zahlreiche Beispiele, bei denen der Markt versagt und staatliche Eingriffe erforderlich sind.

Dazu zählt etwa das Gesundheitswesen. Der Staat muss verhindern, dass ein sterbenskranker Mensch Haus und Hof versetzen muss, um an ein lebenrettendes Medikament zu kommen. Ein anderes Beispiel sind Umweltgesetze, die verhindern, dass Unternehmen Gifte in Flüsse leiten oder unkontrolliert Abgase ausstoßen.

Auch beim Straßenbau kommt es zum Marktversagen. Wäre er privat organisiert, gäbe es sehr gute Autobahnverbindungen zwischen Großstädten. Auch in den Großstädten würde es ausreichend Straßen geben. Kleine Dörfer hingegen könnte man nur auf nicht asphaltierten Feldwegen erreichen.

Genau diese Situation herrscht heute auf den digitalen Straßen des Internets. In Berlin, Hamburg, München und Frankfurt streiten sich die Anbieter, wer dem Nutzer 100 MBit/s und mehr liefern darf. Auf dem Land muss man hingegen mit ISDN auskommen. Dieses Problem hat die Politik erkannt, und der Staat greift ein. Beim Aufbau des LTE-800-Netzes sind zunächst kleine Dörfer zu versorgen. Erst wenn 90 Prozent des Solls erfüllt ist, dürfen sich die Mobilfunker an größere Ortschaften heranmachen.

Bei der Netzneutralität geht es zunächst nicht um den Ausbau der Datenautobahnen, sondern darum, wie die Straßen benutzt werden dürfen. Auch hier existieren erstaunliche Parallelen zum Straßenverkehr. So sind dort manche Fahrzeuge mit einem Quality-of-Service-Byte ausgestattet. Das nennt man Blaulicht und Martinshorn. Dabei handelt es sich aber um absolute Ausnahmen, wenn Menschenleben in Gefahr sind.

Andere Dinge sind undenkbar: Der Fahrer eines Ferrari, der sein Auto mal richtig „ausfahren“ möchte, kann nicht gegen Zahlung einer Gebühr eine Fahrspur auf der A7 exklusiv für sich reservieren und von Flensburg nach Füssen ungestört fahren, während sich der Verkehr auf den anderen Spuren staut.

Auch käme niemand auf die Idee, wenn ein Fußballpokal-Endspiel in der Allianz-Arena stattfindet, eine Sondergebühr für alle Straßen ins Münchener Stadtgebiet zu fordern. Bei einem Großevent muss man mit Staus rechnen. Jeder braucht etwas länger. So funktioniert das nun einmal mit dem öffentlichen Gut Straßennetz, das von allen gleichberechtigt genutzt werden darf. Der LKW-Fahrer mit Tiefkühlware steht in selben Stau wie sein Kollege mit Textilien. Die Tatsache, dass die Kühlung sehr teuer ist, berechtigt ihn nicht, gegen eine Gebühr Blaulicht und Martinshorn zu benutzen.

Nun fordert aber der VATM vor allem in den Punkten drei und vier, dass die Netzbetreiber für bestimmte Dienste Quality-of-Service-Level einführen dürfen, also Vorfahrt gegen Bezahlung. Diese Forderung ist nicht einmal unberechtigt. Allerdings geht das nicht ohne Kontrolle, und es ist eine Menge Sachverstand erforderlich, um die Anbieter zu sinnvollem Netzmanagement zu bewegen.

So ist zum Beispiel Video nicht gleich Video: Bei On-Demand-Videos, etwa YouTube oder einer Online-Videothek, ist eine bevorzugte Behandlung des Traffics nicht erforderlich. Wenn während Spitzenzeiten die Bandbreite im Backbone nicht ausreicht, muss das Video lokal gecacht werden. Bei YouTube heißt das konkret, dass man das Video, das man angefordert hat, erst starten sollte, wenn der rote Downloadbalken eine gewisse Länge erreicht hat. Nutzer, die etwa einen DSL1000-Anschluss besitzen, müssen das bei einem HD-Video ohnehin tun.

Wenn sich die User beschweren, dass ihre Videos grundsätzlich viel zu lange Downloadzeiten haben, obwohl sie über einen Anschluss mit „bis zu“ 16 MBit/s verfügen, heißt das Zauberwort Ausbau der Netzkapazität im Backbone.

Bei Live-Übertragungen sieht die Sache anders aus: Caching muss sich auf wenige Sekunden beschränken, sonst kann man schon auf Nachrichtenportalen das Endergebnis eines Fußballspiels nachlesen, obwohl man gerade erst die Halbzeitpausen-Interviews sieht. Eine bevorzugte Übertragung der Datenpakete muss möglich sein, um störungsfreies Fernsehvergnügen zu gewährleisten.

Was kann man also tun, um nicht priorisierte Dienste weiterhin in angemessener Geschwindigkeit im Internet zu transportieren, ohne die Freiheit der Netzbetreiber einzuschränken, Real-Time-Services mit garantierter Auslieferung zu entwickeln? Die Antwort ist recht einfach. Sie lautet: vorgeschriebene Mindeststandards für unpriorisierte Pakete.

Einem Nutzer, der beispielsweise einen VDSL-25-Anschluss besitzt, könnte gesetzlich garantiert werden, dass er bis zum DE-CIX für 80 Prozent der Zeit mindestens 10 MBit/s zur Verfügung hat. 30 Prozent der Zeit müssen mindestens 20 MBit/s erzielbar sein. Das diese Grenzen für jedes IP-Paket gelten müssen, unabhängig von Art und Inhalt, versteht sich von selbst.

Ähnliche Standards ließen sich für Latenzzeiten etablieren, damit ein Provider nicht für „Premium-Gaming“ oder „Top-VoIP-Qualität“ extra kassieren kann. Ferner sollten Provider nachweisen müssen, dass sie über ein ihrer Netzgröße angemessenes internationales Peering für nicht priorisierte Pakete verfügen. Für internationale CDNs wie Akamai sind die deutschen Vorschriften anzuwenden. Hinzu käme eine Auflage, dass maximal 30 Prozent der Netzkapazität für priorisierte Dienste auf jeder Teilstrecke im Backbone genutzt werden dürfen. 70 Prozent bleiben auf jeden Fall für unpriorisierte Pakete reserviert.

Ein solche Regelung lässt einem Provider alle Freiheiten, gemeinsam mit Inhaltsanbietern innovative, gegebenenfalls kostenpflichtige Dienste auf IP-Basis zu entwickeln und anzubieten. Es bleibt genug Luft für Spitzenzeiten, wenn etwa ein besonderes Ereignis zu sehr großer Last im Internet führt. Allerdings muss der Netzbetreiber sein Netz ausbauen, wenn er mehr priorisierte und kostenpflichtige Dienste oder schnellere Internetanschlüsse anbieten möchte.

Die genannten Grenzen sollen als reines Beispiel verstanden werden. Insbesondere sind sie nicht auf jede Netzwerk-Topologie übertragbar. In einer großen LTE-800-Funkzelle müssen andere Rahmenbedinungen geschaffen werden als für die Nutzer eines Outdoor-DSLAMs. Auch Kabelanbieter, die ländliche Regionen über bis zu 100 Kilometer Entfernung mit Kupferkabel versorgen, müssen für diese Regionen Erleichterungen erhalten.

Natürlich wehren sich die Mitglieder des VATM gegen Mindeststandards. Das zeigt sich in Punkt 7 des Positionspapiers. Ohne gesetzlichen Rahmen ist jedoch die Versuchung zu groß, anstelle eines Netzausbaus interessante Dienste nur gegen Bares anzubieten. Der Preis sorgt dann dafür, dass die Nachfrage so weit zurück geht, dass die derzeitige Netzkapazität ausreicht.

Statt einer gesetzlichen Regelung käme auch eine Selbstverpflichtung der VATM-Mitglieder in Betracht. Aber ich halte das ehrlich gesagt für unrealistisch, solange zahlreiche Anbieter wissentlich gegen Punkt 1 des Papiers verstoßen. Der sagt nämlich, dass Inhalte nicht ohne gesetzliche Vorschrift diskrimiert und kontrolliert werden sollen.

Dieser Punkt beinhaltet sicherlich auch die absichtliche Fälschung von DNS-Antworten, die die Provider unverändert weiterleiten müssten, anstatt die Nutzer gezielt auf Werbeseiten zu locken. Und da laut Punkt 9 des Papiers die Prinzipien der Netzneutralität auch für Mobilfunkprovider gelten müssen, sollten diese die vorsätzliche Modifizierung von übertragenen Dateien bis hin zum ungefragten Einschleusen von unerwünschtem Javascript-Code unterlassen.

Sebastian von Bomhard, Vorstand des Providers Spacenet, ist der Ansicht, dass beim Thema Netzneutralität die Kapazitätsdiskussion eine Scheindiskussion ist: Kapazitätsengpässe rechtfertigten keinen Eingriff in Dienste Dritter. Im Video-Interview mit ZDNet begründet von Bomhard seine Ansichten und Argumente.

ZDNet.de Redaktion

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