Kindernet ade: Peinliches Ende für den JMStV

Der Entwurf eines neuen Jugendmedienschutzstaatsvertrag (JMStV) wird morgen vom Landesparlament in Nordrhein-Westfalen abgelehnt werden. Alle Fraktionen haben angekündigt, dagegen zu stimmen. Das ist gut so. Die Entscheidungsfindung ist jedoch eine Blamage für Politiker aller Parteien.

Eigentlich wollte zum Schluss den neuen JMStV niemand mehr haben. Kein Wunder, denn das Regelwerk strotzt nur so vor Inkompetenz. Gestandene Medienpolitiker aus Rheinland-Pfalz, die sich bisher mit TV und Rundfunk beschäftigt hatten, sollten einen Jugendschutz für das Internet festschreiben. Stattdessen droschen sie unreflektiert Phrasen aus ihrem beschränkten Vokabular.

So ist die Rede von Alterskennzeichnungspflicht für Webseiten und Sendezeiten für „entwicklungsgefährdende“ Inhalte. Elementare Dinge, etwa die Erdrotation, die dafür sorgt, dass irgendwo auf der Welt immer Tag ist, wurden ignoriert. Auch die Tatsache, dass Deutschland auf der Weltkarte ziemlich klein erscheint, interessierte niemanden. So kann man sich zwar schlaue XML-Tags ausdenken, kein Content-Management-System der Welt unterstützt jedoch diesen Unsinn, der sogar zwischen <min-age> und <default-age> unterscheiden kann.

Während große Verlage das in ihren Eigenentwicklungen einbauen können, bleiben kleine Blogger auf der Strecke. Denn sie müssen jeden Artikel kennzeichnen. Eine pauschale Implementierung im Template reicht nicht. Auch seriöse Anbieter, die nicht grundsätzlich den nackten Oberkörper eines „Girl des Tages“ mit dem Bericht über einen Papstbesuch auf eine Seite packen, kommen um „entwicklungsgefährdenden“ Inhalt nicht umhin.

Zum Einen könnte ein User-Kommentar dieses Kriterium erfüllen, zum Anderen muss ein Blogger manchmal darüber berichten, ob es nach schwedischem Recht eine Vergewaltigung ist, wenn eine Frau ihr Einverständnis zum Sex ohne Kondom einige Tage später rückwirkend für nichtig erklärt, wie das Beispiel Wikileaks zeigt.

Ob ein Staatsvertrag sinnvoll ist oder nicht, spielt jedoch bei einer Entscheidungsfindung keine Rolle: CDU und SPD, die derzeit als Sammelbecken für Internet-Ausdrucker dienen und aus historischen Gründen manchmal als Volksparteien bezeichnet werden, sind mehrheitlich für den Vertrag. Vermutlich dürfte allgemeines Desinteresse am Thema und das gute Gewissen, irgendetwas für den Jungendschutz getan zu haben, ausschlaggebend sein. Grüne, FDP und die Linke sind überwiegend dagegen.

Das Abstimmungsverhalten ist jedoch anders: Die Parteien mit Regierungsverantwortung in ihrem Land stimmen grundsätzlich für den Vertrag. Denn man muss sich ja „staatstragend“ verhalten. Die Oppositionsparteien stimmen teils nach Überzeugung, teils „staatstragend“ oder enthalten sich.

Ein Staatsvertrag kommt zustande, wenn man eine bundeseinheitliche Regelung in einer Sache sucht, die in der Gesetzgebungskompetenz der Länder liegt. Dazu müssen alle 16 Bundesländer zustimmen, die dann einen Staatsvertrag abschließen und ihn anschließend von den Länderparlamenten „zwangsratifizieren“ lassen.

„Staatstragend“ heißt also in diesem Zusammenhang, dass man ohne nachzudenken zustimmt, egal ob ein Entwurf offensichtlich unsinnig ist oder nicht, sonst käme aufgrund unterschiedlicher Mehrheitsverhältnisse in den Ländern ja nie einer zustande. Irgendwelche komische Verfassungsregelungen, dass ein Abgeordneter nur seinem Gewissen verantwortlich ist, dürfen keine Rolle spielen.

In Nordrhein-Westfalen gibt es eine besondere Situation, nämlich einen Regierungswechsel: Dort regierte bis vor kurzem der sogenannte „Rüttgers-Club“, eine Koalition aus CDU und FDP. Daher setzten sich diese Parteien für den JMStV ein. Die Opposition war geschlossen dagegen.

Inzwischen wurde der „Rüttgers-Club“ abgewählt und nach langem Hick-Hack durch eine „Ypsilanti-Koalition“ ersetzt. Das ist eine Minderheitsregierung aus SPD und Grünen unter Duldung der Linkspartei. Ihr fehlt ein Mandat im Parlament zur absoluten Mehrheit.

SPD und Grüne müssen also zustimmen, um als „staatstragend“ zu gelten. CDU und FDP sind jetzt plötzlich dagegen. Zumindest bei der CDU wirkt das befremdlich, hat sie doch in den meisten Ländern zugestimmt, obwohl sie in der Opposition sitzt. Aber nach der eigenen Meinung abzustimmen, geht nur solange, wie keine machtpolitischen Überlegungen dagegen sprechen.

Da davon auszugehen ist, dass mindestens ein Abgeordneter der Linken (vermutlich sogar alle) gegen den JMStV stimmt, kann man der Regierung „eins auswischen“, indem man geschlossen gegen den Vertrag stimmt. Dann sind nämlich die nötigen 50 Prozent nicht erreicht. Was zählen dabei schon Überzeugungen oder handwerklich schlechte Verträge.


Real existierende Demokratie in Deutschland: „Staatstragende“ Entscheidungsfindung zum JMStV (Screenshot: ZDNet).

Nachdem SPD und Grüne den Trick der CDU durchschaut haben, werden sie morgen gegen den Vertrag stimmen, obwohl die Grünen es im November noch anders zwitscherten. Inhaltliche Aspekte spielen keine Rolle, auch das zeigt der Tweet der Grünen.

Am Ende kommt in NRW zwar das richtige Ergebnis heraus, der Prozess der Entscheidungsfindung ist jedoch eine Schande für die Demokratie, anders kann man es nicht ausdrücken.

Ich könnte diesen Blogbeitrag jetzt schließen, indem ich der Hoffnung Ausdruck gebe, dass die Parlamentarier sich vielleicht einige Gedanken zum Abstimmungsverhalten machen und den Spiegel nutzen, der ihnen vorgehalten wurde, aber ich will ja nicht als Fantast oder Träumer gelten. Also freue ich mich, dass der JMStV in der jetzigen Form ab morgen Geschichte ist.

ZDNet.de Redaktion

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