Amazon Cloud Drive: mit riskantem Gewaltakt zur Marktführerschaft?

Amazon hat Apple und Google in einem raschen und mutigen Manöver durch den Start des Musikdienstes Cloud Drive rechts überholt: Das Unternehmen bietet mit Amazon Cloud Drive ab sofort eine Online-Festplatte an, auf der Anwender Dokumente, Bilder, Videos und Musik speichern können. Dort abgelegte Lieder lassen sich auf PCs, Macs oder Android-Geräte streamen.

„Unsere Kunden haben uns gesagt, dass sie Musik nicht auf Arbeitsrechner oder Mobiltelefone herunterladen wollen, weil es aufwändig sei, die Stücke anschließend auf andere Geräte zu übertragen“, sagt Bill Carr, Vice President für Filme und Musik bei Amazon. „Nun können sie Musik zu Hause, bei der Arbeit oder unterwegs auf Amazon MP3 kaufen, in der Cloud speichern und von überall abspielen. Fast überall: Der Cloud Player für Android steht zum Start nur Nutzern aus den USA in vollem Umfang zur Verfügung. Andere müssen sich mit Teilfunktionen begnügen.

Die Gründe für die Einschränkung sind unklar – lizenzrechtlicher Natur sind sie jedenfalls nicht, denn darauf, von den Hollywood-Studios oder den Musikfirmen Rechte für diese Art von Nutzung zu erwerben, hat Amazon verzichtet. Man darf aber sicher sein, dass viele aus dem Lager der Film- und Musikbranche glauben, dass das Vorgehen ihre Rechte verletzt. Diesbezügliche Andeutungen haben mehrere Quellen bereits gegenüber CNET gemacht – sobald die Firmenbosse mit ihrer Anwälten gesprochen haben, werden sicherlich konkretere Aussagen folgen.

Bei Cloud Drive erhalten Besitzer eines Amazon-Kontos automatisch 5 GByte Online-Speicher. Mit dem Cloud Player von Amazon lassen sich die dort abgelegten Lieder abspielen. Beim Kauf eines Albums von Amazon MP3 wird der Speicherplatz für ein Jahr auf 20 GByte aufgestockt. Zudem belasten Musikdownloads aus Amazons Shop, die direkt im Cloud Drive abgelegt werden, nicht das verfügbare Speichervolumen.

Ganz ohne mit den Rechteinhabern zu sprechen hat Amazon das Unternehmen nicht in Angriff genommen. Anscheinend hat Amazon in den Gesprächen aber nur dargelegt, dass es den Dienst plant, schnell starten will, und dafür lediglich den Segen der Studios und Labels erbeten. Zu konkreten Verhandlungen über Art und Umfang von Vergütungen war man wohl nicht bereit: Amazon-Verantwortliche sagten in den Treffen ganz klar, dass sie den Dienst bei einer ablehnenden Haltung der Label ohne Lizenzen starten werde, über die man ja dann später sprechen könnte.

Das mag den Labels schon unverschämt erschienen sein. Craig Pape, Musikchef bei Amazon, hat in einem Interview mit der New York Times am Montag aber nochmal eins draufgelegt: „Wir brauchen keine Lizenz, um Musik zu speichern.“ Seine Begründung: „Die von uns gebotene Funktion ist wie die einer externen Festplatte.“

Die Angst der Label vor Cloud-Musik-Diensten

Bei denen, an die diese Wort gerichtet sind, kamen sie nicht gut an. Die vier größten Musiklabel haben schon seit erste Gespräche über Cloud-Musik-Services im vergangenen Jahr an die Öffentlichkeit gelangten klar gemacht, dass die derzeitigen Lizenzen die Verbreitung oder das Speichern in der Cloud nicht umfassen – zumindest ihrer Ansicht nach. Daran hat sich nichts geändert: Das Wall Street Journal hat dazu am Montag einen Vertreter von Sony Music Entertainment zitiert: „Wir sind enttäuscht, dass der von Amazon angebotene Schließfachdienst nicht durch Sony Music lizenziert ist.“

Bei der Enttäuschung wird es allerdings nicht bleiben. Den nächsten Schritt der Labels und Studios vorherzusagen ist jedoch schwer. Sonys Marktbegleiter prüfen derzeit Cloud Drive und Cloud Player noch um herauszufinden, auf welche Rechtsnormen Amazon sein Vorgehen stützt. Eine sofortige Klage steht wahrscheinlich nicht bevor, verzwickte juristische Winkelzüge sind jedoch mehr als wahrscheinlich.

Dafür spricht das Vorgehen von EMI, dem kleinsten der Top-Vier-Label, gegen MP3tunes.com und dessen Gründer Michael Robertson, einem Pionier im Cloud-Musik-Bereich. EMI beschuldigt Robertson und seine Firma, Urheberrechtsverletzungen zu begünstigen. Zudem betreibe Robertson MP3tunes.com und Sideload.com, um Musikpiraterie zu ermöglichen. Laut EMIs Anklage hilft Sideload Nutzern, Links zu stibitzter Musik im Web zu finden und zu organisieren. MP3tunes werde dann genutzt, um die gestohlenen Inhalte zu speichern, ohne einen Cent an die Urheber zu bezahlen.

Robertson weist die Vorwürfe als unhaltbar zurück. Seiner Ansicht nach ist das Verfahren nicht mehr und nicht weniger als der Versuch, die Cloud zu verschließen, damit die Labels Kunden zwingen können, für die Zugangsrechte zu Musik, die ihnen bereits gehört, nochmal zu bezahlen. Eine Entscheidung in dem Verfahren steht noch aus, könnte aber jederzeit gefällt werden. Sie ist möglicherweise für die weitere Entwicklung wegweisend.

Warum Amazon das hohe Risiko eingeht

Warum hat Amazon diese Entscheidung nicht abgewartet? Warum riskiert man es, sich mit wichtigen Lieferanten zu überwerfen und einen langwierigen Prozess über die korrekte Art der Lizenzvergabe zu verlieren, um dann möglicherweise eine hoheb Strafe zu bezahlen? Eine mögliche Antwort ist, dass Amazon die endlosen Verhandlungen noch mehr als die möglichen Konsequenzen befürchtet hat.

Wenn Amazon wirklich fest entschlossen war, in dem Feld der erste der ganz großen Anbieter zu sein, musste schnell gehandelt werden. Schließlich drängte die Zeit: Vergangene Woche sickerte durch, dass bei Google Mitarbeiter intern mit Tests von Google Music begonnen haben. Anfang März wurde zudem bekannt, dass Apple mit den großen Labels darüber verhandelt, wie man iTunes-Nutzern Zugriff auf Tracks in der Cloud bieten kann.

Angesichts dieser Meldungen mag bei Amazon nach einer Abwägung der Vorteil, erster zu sein, die möglichen Nachteile überwogen haben. Dazu mag auch beigetragen haben, was aus dem Umfeld der Studios zu vernehmen war: Untersuchungen hätten gezeigt, dass Nutzer, nachdem sie sich für einen Cloud-Dienst entschieden haben, nur schwer zum Wechsel zu bewegen sind, weil sie die Upload-Prozedur nicht noch einmal durchmachen wollen. Ähnlich wechselunwillig sind die Nutzer ja auch bei iTunes – und das übrigens auch ohne die Knebelversuche von Apple.

Ein weiterer wichtiger Grund für Amazons Entscheidung könnte das bisherige Image gewesen sein: Denkt man beim Namen Amazon doch eher an den Versand von DVDs und CDs als an die digitale Verbreitung von Filmen und Musik. Erstes Anzeichen für einen Wandel war das Übernahmeangebot für den Video-On-Demand-Dienst Lovefilm. Zweites, schon deutlicheres Anfang des Monats die Ankündigung, dass Amazon seinen Prime-Mitgliedern kostenlose Streams von 5000 Filmen und Fernsehserien anbietet. Die Auswirkungen waren beträchtlich: Analysten entdeckten umgehend, dass Amazon sowohl das Geld als auch das Publikum dafür habe, um die Vorherrschaft von Netflix zu brechen – was den Aktien des Unternehmens prompt einen heftigen, wenn auch vorübergehenden Ausschlag nach unten bescherte. Spätestens mit der Ankündigung von Cloud Drive ist jetzt klar, dass sich Amazon auch bei der digitalen Verteilung von Musik und Filmen nicht mit der zweiten Reihe zufrieden geben wird.

ZDNet.de Redaktion

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