Spätestens im Jahr 2023 wird es möglich sein, das menschliche Gehirn bis auf Zellebene zu simulieren. Das hat Henry Markram, Direktor des Blue Brain Projects an der Ecole Polytechnic Federale De Lausanne auf der International Supercomputing Conference in Hamburg gesagt. Gleichzeitig rief er die an der Konferenz teilnehmenden Biologen auf, sich der Herausforderung eines „Datentsunamis“ zu stellen, der auf sie zurolle. Die Computertechnik der Wissenschaftler müsse in die Lage versetzt werden, ein komplettes Gehirn von der grundlegenden Verarbeitungs- und Kommunikationseinheit – dem Neuron – aufwärts zu simulieren. Der Termin 2023 sei nur zu halten, wenn die jetzigen Annahmen über Forschungszuschüsse und die Entwicklung der Computertechnik richtig seien.
„Wir brauchen Rechenkapazität im Bereich von einem Exaflops (eine Trillion Gleitkommaoperationen) pro Sekunde, eine Zahl mit 18 Nullen), um das Gehirn auf Zelllevel zu simulieren“, erklärte Markram. „Notwendig ist eine globale Wissensintegration, um dieses Ziel zu erreichen. Man muss die gesamten Forschungsergebnisse von der Genetik aufwärts bis zum Phänotyp [Merkmale eines Organismus] in Datenbanken erfassen und mit Reverse-Engineering-Verfahren nach Regeln und Mustern suchen.“
Das hört sich nach einer kaum zu bewältigenden Aufgabe an. Doch nach Markrams Ansicht arbeitet eine besondere Eigenschaft biologischer Systeme für die Wissenschaftler. Während in anderen Bereichen der Computerwissenschaft Systeme mit steigender Komplexität immer schwerer zu konstruieren und zu simulieren sind, ist es in der Biologie umgekehrt: „Aus den makroskopischen Vorgaben kann man die Details auf der mikroskopischen Ebene ableiten“, erklärte er. „Dadurch wird es schneller und einfacher, die Einzelheiten in der Zelle festzulegen.“ Je mehr man also über die allgemeinen Strukturen des Gehirns weiß, desto einfacher kann man die Feinstrukturen simulieren.
Wenn man irgendwann in den 2020er Jahren ein Gehirn simulieren könne, werde es auch die Werkzeuge geben, mit denen Wissenschaftler in Echtzeit Experimente mit der Simulation durchführen könnten, so der Referent. In Lausanne entwickle man schon jetzt ein Verfahren, mit dem Wissenschaftler in aller Welt nicht nur auf das High-Performance-Computing-System (HPC), auf dem die Simulation läuft, zugreifen werden, sondern auch auf das künstliche Gehirn selbst.
Zusätzlich plant man, die Grundlagenarbeiten zur Analyse der Zellstrukturen des Gehirns auf andere Computer auszulagern. Das soll ähnlich funktionieren wie beim SETI@Home-Projekt zur Suche nach außerirdischen Lebensformen, das den Boinc-Client benutzt. Dank Boinc können Heimanwender in aller Welt Rechenleistung zu einem Wissenschaftsprojekt beisteuern.
Durch die Analyse der Tiefenstrukturen des Gehirns hoffen die Wissenschaftler laut Markram, allgemeine Prinzipien der Computerwissenschaft zu entdecken. Nützlich wären diese zum Beispiel für Algorithmen, die komplexe Leistungen wie Buchstabenerkennung simulieren. „Halten wir uns vor Augen: Wenn es uns gelänge, hochintelligente Rechnerarchitekturen nach dem Vorbild von Neuronen zu bauen, wären diese wahrscheinlich tausendmal einfacher als das menschliche Gehirn, aber auch tausendmal intelligenter als alles, was wir auf dem Gebiet der Robotik haben werden. Die Robotik ist noch im finsteren Mittelalter, weil sie kein Gehirn hat.“
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