Machen übereifrige Firmen die Sozialen Netze kaputt?

Es ist wie zu den Zeiten des Goldrausches: Damals hatte jeder seinen geheimen Plan, um reichhaltige und gewinnbringende Vorkommen zu entdecken. Heute drängen sich Firmen Legionen von selbsternannten Experten auf, die ihnen erklären wollen, wie sie die potenziellen Reichtümer erschließen können, die sich in Social Media verbergen. Prüft man die Links und Beiträge, die Social-Media-„Experten“ den lieben langen Tag via Twitter, Facebook, Xing und jetzt auch Google+ verbreiten, und fasst sie zusammen, kommt unterm Strich eine Kernaussage heraus: „Hier wird Ihnen gezeigt, wie sie Social Media in einen lukrativen Kanal für Marketing und/oder Vertrieb Ihres Unternehmens verwandeln.“

Zudem gibt es zahlreiche Dienste, etwa Klout, Seitwert oder Technorati, die Firmen dabei helfen, die für sie wichtigen Menschen in Sozialen Netzen zu identifizieren. Anschließend können sie diese oder deren Leser, Follower oder Freunde gezielt mit Online-Werbeprogrammen versorgen.

Und natürlich gibt es hunderte von Büchern, in denen zunächst einmal aufgezeigt wird, wie unumgänglich es ist, Verkaufszahlen und Gewinne mithilfe von Social Media zu steigern. Anschließend werden passende Strategien und Tipps vorgeschlagen. Ergebnis der daraus hervorgehenden „Social-Media-Strategien“ sind nicht selten selbstgeschriebene Produktrezensionen vom Chef, entweder unter echtem Namen oder unter Pseudonym, für Beiträge bezahlte Blogger und Horden von angeblichen Nutzern, die in Foren und Portalen Auftragskommentare hinterlassen.

Wie wäre es einmal mit zuhören?

Aber: Social Media ist keine Verlautbarungsplattform für Firmen. Social Media kann für Firmen nützlich sein, um das aufzuschnappen, was Shel Israel und Robert Scoble „nackte Gespräche“ nennen. Sie können allein durch Zuhören vergleichsweise einfach eine Vielfalt und Tiefe an Meinungen erfahren, die sie früher nicht einmal durch ausgefeilte Marketingkampagnen und teure Forschung mit Fokusgruppen zu hören bekamen. Versuchen Firmen aber, Social Media als einen weiteren Marketing- oder Vertriebskanal zu behandeln, riskieren sie, solch „nackte Gespräche“ und die daraus erhältlichen Einblicke in das echte Kundenverhalten zu verlieren. Das ganze Web 2.0 ist dann nicht mehr Social Media, sondern eine mutierte Form von Unternehmensmedien.

Dem trägt etwa der Ansatz der Altimeter Group Rechnung. Die von Charlene Li gegründete Unternehmensberatung legt den Schwerpunkt auf das Zuhören. Genaues Zuhören ist heute ein Luxus – in einer Zeit, in der ständige Unterbrechungen die Regel und Ablenkungen nur einen Klick entfernt sind. Zuhören ist aber ein wichtiger Bestandteil von Gesprächen – genauer gesagt die Hälfte. Dennoch sehen es die meisten Leute nicht so: Für sie ist die Zeit, in der der andere spricht, verlorene Zeit. Sie achten währenddessen nicht darauf, was gesagt wird, sondern warten lediglich, selbst das Wort ergreifen zu können. Darüber, ob so eine vernünftige Diskussion zustande kommen kann, sollten auch Firmen einmal nachdenken.

Indem Firmen bei Social Media einfach nur zuhören, bewahren sie auch die Authentizität des dort Gesagten. Wenn sich Nutzer beobachtet fühlen, wird es ihnen schwerer fallen, ihre ehrliche Meinung zu sagen. Und wenn Soziale Netzwerke vollkommen von Firmenaktivitäten durchsetzt sind, wird das die Natur dieser Gemeinschaften verändern – etwa, dem das Engagement der Nutzer abnimmt.

Niemand will die von Beratern propagierten Firmenaktivitäten

Dennoch gibt es wie gesagt scharenweise Berater und Experten, die Firmen dazu drängen, Soziale Netze in einen weiteren Abverkaufskanal umzufunktionieren. Im Hintergrund drohen sie dabei immer mit dem Totschlagargument, dass den Unternehmen der Wettbewerb zuvorkommen wird, wenn sie es nicht selbst tun. Und zumindest in diesem Punkt haben Berater und Experten Recht: Irgendjemand wird es tun. Was unweigerlich bedeutet, dass sich Social Media, wie wir es heute noch kennen, in Zukunft durch die Landnahme der Firmen grundlegend verändert.

Zugegeben, einige Firmen agieren vorsichtig und zurückhaltend. Aber der Druck ist hoch, mehr zu tun: Sich stärker einzumischen, tiefer zu engagieren und vehementer in Diskussionen einzugreifen. Und dadurch wird die Integrität von Social Media, wie wir sie heute noch kennen, zerstört. Auf lange Sicht können Firmen gar nicht anders, als zu sehr und unangemessen zu agieren, sie können gar nicht anders, als die von ihnen ins Visier gefassten Meinungsführer zu bedrängen oder zu umschmeicheln, um ihnen wohlgefällige Berichterstattung zu erreichen. Und am Ende wird Social Media für sie nur noch eine Abart einer schlecht gemachten Kundenzeitschrift sein. Liest soetwas jemand? Vielleicht. Nimmt es jemand ernst? Eher nicht.

Was folgt daraus? Niemand außer den beteiligten Firmen und den selbsternannten Experten will so eine Art von Sozialen Netzen, wie sie durch die jetzt anlaufenden Aktivitäten entstehen werden. Also werden sich die Nutzer nach Alternativen umsehen – so wie sie das schon seit ein paar Jahren tun. Der Unterschied ist, dass beim ersten Run auf Second Life, MySpace, et cetera eine vergleichsweise kleine Avantgarde den Trend setzte. Inzwischen hat jedoch Facebook mit über einer halben Milliarde Nutzern Soziale Netze zu einem zumindest in der westlichen Welt alltäglichen Phänomen gemacht.

Ohne möchte man eigentlich nicht mehr auskommen. Dennoch werden die Nutzer die ihnen wirklich wichtigen Dinge in weniger sichtbare und transparente Ecken des Webs verlagern, in kleinere und privatere, vor allem in vor dem Ausspionieren weitgehende geschützte Netze. Wie diese sich dann finanzieren und was für welche das sein werden, muss sich erst noch zeigen. Dass es sie geben wird, ist aber sicher.

ZDNet.de Redaktion

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