Eine ganze Zeit lang wurde der Entwurf für den Stop Online Piracy Act (kurz SOPA, PDF) wenig beachtet, räumte man ihm doch kaum Chancen ein. Das hat sich geändert: Es setzt sich allmählich die Ansicht durch, der Entwurf könnte durchaus vom Kongress abgesegnet werden und damit Gesetzeskraft erlangen. Kritiker befürchten allerdings, dass das Verschieben der Aufgabe, Urheberrechte durchzusetzen, von deren Inhabern auf Behörden schnell zu einer Zensur führen könnte, wie sie heute zum Beispiel in China ausgeübt wird.
Bedenklich ist vor allem die vorgesehene Funktionsweise: Wer sich im Besitz eines Urheberrechts wähnt (oder es tatsächlich ist), schreibt einfach den Betreiber der Website an, auf der angeblich verletzendes Material auftaucht. Dieses muss dann von allen Sites, auf die der Betreiber Zugriff hat, gelöscht werden. Außerdem ist der Account des Nutzers zu sperren und seine IP-Adresse samt zusätzlicher, identifizierender Daten herauszugeben. Damit kann der Rechteinhaber den Verletzer dann auf Schadenersatz in einer Höhe verklagen, die um ein Vielfaches über das hinausgeht, was zum Beispiel in Deutschland üblich ist. Das geht sogar dem EU-Parlament zu weit, das sich in einer Resolution gegen den Stop Online Piracy Act ausgesprochen hat.
Der Vorwurf von Urheberrechtsverletzungen könnte, wenn SOPA verabschiedet wird, zudem dazu führen, dass eine Firma ihre Domains abgeben muss. Das träfe nicht nur Kleinunternehmen, sondern könnte auch auf börsennotierte Konzerne angewandt werden. Und es wäre nicht nur für US-Firmen eine ernsthafte Bedrohung, sondern für alle, die unter den Top-Level-Domains .com, .net und .org agieren.
Das Copyright-System funktioniert nicht mehr so wie früher, das Web ebenfalls nicht. Aber während die Urheberrechte dringend einer Reform bedürfen, kann beim Web alles so bleiben wie es ist – solange seine Grundprinzipien nicht angetastet werden. Das Hauptproblem ist nämlich, dass es keine Regeln für das Web gibt, sondern nur nationale Gesetze. Aber angesichts eines grenzenlosen, verknüpften Netzes, das sich über fast alle Länder dieser Erde erstreckt, wird es – falls SOPA verabschiedet wird – unweigerlich zu Nebenwirkungen kommen, die die freie Meinungsäußerung im Netz bedrohen.
„Meiner Ansicht nach wird das US-Copyright-System unweigerlich scheitern, wenn der Kongress nicht weiterhin dafür sorgt, dass es energische Antworten auf Online-Piraterie gibt“, hat Maria Pallante, Leiterin des U.S. Copyright Office, gesagt. Soll damit das Copyright mit der teilweise sicher berechtigten Begründung, dass seine Mißachtung für manche Branchen schädlich ist, als Ausrede dafür dafür genutzt werden, um weitgehende Kontrolle über das Internet zu erlangen?
Das Internet als Kommunikationszentrum
Das Internet ist mehr als eine Möglichkeit, Informationen darzustellen. Es hat sich explosionsartig in ein schnelles, zumindest weitgehend unkontrolliertes Kommunikationszentrum gewandelt, ein vielfältiges Netzwerk an Informationen und Daten, auf das wenigstens die westliche Gesellschaft unbegrenzten Zugriff hat. Wie lange kann man da ernsthaft erwarten, dass Behörden von dem Versuch Abstand nehmen, ihre Bürger zu reglementieren? Aber sollte die USA als Land, dass masiv in Maßnahmen investiert, um weltweit Zensurgegner zu unterstützen, unbedingt mit schlechtem Beispiel vorangehen?
Als Peer-to-Peer-Netze zunächst bei jungen, technikbegeisterten Menschen populär wurden, hatten alle Branchen, einschließlich der Unterhaltungs- und der Musikindustrie, Gelegenheit, ihre Geschäftsmodelle anzupassen. Man hätte Kunden zum Beispiel ein besseres Preis-Leistungsverhältnis bieten können. Oder man hätte ihnen andere, attraktive Angebote machen können, anstatt sie mit gestaffelten, weltweiten Releasedaten und hohen Preisen für CDs zu nerven, obwohl sie sich inzwischen dasselbe Produkt binnen Minuten kostenlos herunterladen konnten.
Erinnern wir uns: Schallplatten mit populärer Musik wurden ursprünglich angeboten, um Menschen in die Konzerte zu locken, weil Musiker und deren Agenten damit ihr Geld verdienten. Wie viel einfacher wäre es zum Beispiel gewesen, dieses Geschäftsmodell angesichts quasi kostenloser, weltweiter Verbreitungsmöglichkeiten für Musik wiederzubeleben, anstatt diese Möglichkeiten erbittert zu bekämpfen, Preise für Datenträger mit Musik zu erhöhen und dann über die Kaufunlust der Kunden zu jammern?
Aber anstatt mit der Zeit zu gehen, bemühte sich die Industrie immer wieder, den Aufstand niederzuschlagen. Sie versuchte es zum Beispiel mit dem Sündenbock-Ansatz. Dazu wurden einzelne „Leecher“ – die Daten downloaden aber nicht oder nur sehr eingeschränkt selbst welche hochladen – mit Straf- und Schadenersatzforderungen in einer Höhe überzogen, die sie niemals bezahlen konnten. Ein weiteres Beispiel ist der Versuch, einzelne Torrent-Sites zu schließen, die auf die Datei nur verlinkten, diese aber nicht selbst vorhielten und so eigentliche eine Gesetzeslücke ausnutzten, die durch fragmentierte, schwammige Rechtssysteme und die grenzüberschreitenden Aktivitäten entstanden war. Diese Bemühungen hatten aber auch nur symbolischen Charakter, die Ursache des Problems berührten sie ebenfalls nicht.
Weltweit sehen Regierungen den Wald vor lauter Bäumen nicht
Wie man es auch dreht und wendet, der Versuch, „illegale Urheberrechtsverletzungen“ (gibt es denn auch legale?), Piraterie, Raubkopien oder wie immer man es nennen mag, zu begrenzen und zu kontrollieren ist in der Gesellschaft felsenfest verankert: Wer etwas hat, versucht es eben zu beschützen.
Wie würde aber die Öffentlichkeit in den USA reagieren, wenn es zu einer Situation wie nach den Ausschreitungen in London in diesem Jahr kommen würde, als der Premierminister öffentlich in Erwägung gezogen hat, ob man bei möglichen künftigen Ereignissen dieser Art soziale Netzwerke nicht einfach abstellen sollte? Würde die US-Bevölkerung Einschränkungen bei Facebook und Twitter für einen unbestimmten Zeitraum hinnehmen? Eine Woche? Oder einen Monat? Wohl kaum, dazu ist den Amerikanern die freie Meinungsäußerung zu wertvoll.
Unruhen könnten schließlich als „angemessene Rechtfertigung“ gelten, um Soziale Netzwerke einzuschränken und zu überwachen. Aber würde das nicht die Kommunikation einschränken? Würde das nicht die Wege blockieren, auf denen sich die öffentliche Meinungsbildung mitbestimmen lässt und die Möglichkeit einschränken, friedliche Kundgebungen zu organisieren? Und woher nähme man dann noch das Recht, sich über die Einschränkung der Internetnutzung in China zu mokieren?
Ahnungslosigkeit als Qualifikation
Es ist auch erstaunlich, wie wenig Sachverstand sowohl in den USA als auch in anderen Ländern bei den Leuten anzutreffen ist, die an vorderster Front für die Einschränkungen kämpfen. Die Bezeichnung „Internetausdrucker“ ist für sie wohl noch nicht bis in die USA vorgedrungen, die Verhaltensweisen sind jedoch dieselben. Der verhement dafür eintretende Republikaner Lamar Smith – natürlich aus Texas – gibt zum Beispiel ganz offen zu: „Ich bin kein technischer Experte dafür.“ Wäre es aber nicht sinnvoll, dass das „Phänomen“ des unbefugten Teilens urheberrechtlich geschützter Inhalte von jemandem gründlich untersucht wird, der etwas von der Technologie versteht? Sie liegt schließlich dem Ganzen zugrunde liegt und macht es schließlich erst möglich.
Und falls SOPA verabschiedet wird, wer wird die „Große Firewall von Amerika“ dann in der Praxis umsetzen? Die Copyright-Polizei aus Hollywood oder die US-Justizbehörden? Wie auch immer, am Ende könnte die Konzentration von so viel Macht in den Händen einer kleinen Gruppe dazu führen, dass das Online-Unternehmertum nahezu zum Erliegen kommt: Wer möchte noch Geld und Zeit in ein Vorhaben investieren, das innerhalb von Tagen für eine langwierige Untersuchung stillgelegt werden kann? Und das selbst, wenn nur der vage Verdacht auf mögliche Verletzungen von Urheberrechten vorliegt?
Falsche Ziele, falsche Mittel
SOPA zielt gar nicht wirklich darauf ab, Urheberrechtsverletzter zu schnappen. Der Gesetzesentwurf konzentriert sich vielmehr darauf, die zur Urheberrechtsverletzung verwendeten Mittel und Wege zu sanktionieren – also all die Plattformen und Netzwerke, in denen Nutzer durch ihre Interaktion potenziell urheberrechtlich geschützte Inhalte anders verwenden, als dies vom Rechteinhaber beabsichtigt ist. Kleine Firmen, die mehr Entwickler als Anwälte beschäftigen, können dadurch mit frei erfundenen oder schwer zu widerlegenden Vorwürfen binnen wenigen Tagen aus dem Geschäft gedrängt werden.
Zwar wird Otto Normalverbraucher nur wenige Möglichkeiten haben, das Gesetz zu umgehen, aber es ist letztendlich ja nicht der durchschnittliche User, der Urheberrechte massenhaft verletzt. Und zu guter Letzt gibt es keine schlüssige Beweisführung, dass ohne SOPA das gesamte System der Verwertungsrechte scheitern muss. Unternehmen sollten lieber sich und ihre Geschäftsmodelle an die inzwischen ja nun gar nicht mehr so neuen Gegebenheiten anpassen. So könnten sie aus einer Situation, die sie ja zum Teil mit verursacht haben, das Beste für sich machen.
Die Liste der SOPA-Gegner ist lang und prominent: AOL, Ebay, Google, Facebook, LinkedIn, Mozilla, Yahoo und natürlich die Electronic Frontier Foundation (EFF) sowie die American Civil Liberties Union (ACLU). Der Filz aus Politik, Wirtschaftsverbänden, Firmen und Fürsprechern, der sich für das Gesetz einsetzt, ist ebenfalls weitgehend bekannt und gut dokumentiert.
Fazit
Dass die Film- und Musikbranche ihre Pfründe schützen will, ist mit etwas gutem Willen sogar noch nachvollziehbar – obwohl es die oben genannten Alternativen gäbe. Dass aber die dazu von den Lobbyisten auf den Weg gebrachten Gesetzesentwürfe die Bürgerrechte stärker einschränken und beschneiden als Gesetze, die den Missbrauch von Kindern und die Verbreitung daraus entstandenen Bild- und Filmmaterials verfolgen sollen, stimmt doch nachdenklich.
Lediglich ein Pflaster auf eine Wunde zu kleben heilt diese nicht. Unterm Strich lässt sich etwas, dessen Mechanismen man nicht einmal ansatzweise versteht, auch nicht kontrollieren. So wie es derzeit aussieht, wird es der US-Kongress aber dennoch versuchen.
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