Hinter diesem europaweiten Notrufsystem steckt eine gigantische IT-Infrastruktur, die von 28 Ländern betrieben wird. Hunderte Millionen Autofahrer mit etwa 230 Millionen PKWs sollen nach einem Unfall innerhalb von Millisekunden auf diese Infrastruktur zugreifen: Die eCall-Box im Fahrzeug schickt eine SMS-Nachricht über die europaweit einheitliche 112-Notrufnummer an die nächste Rettungsleitstelle. Von dort ruft ein Mitarbeiter im Auto an, verifiziert die Meldung und schickt Hilfe.
Doch es ist völlig klar, es gibt keine Lebensrettung, ohne ein tragfähiges Geschäftsmodell. Und das heißt bei eCall „Zusatzdienste“. Der ertragreichste Zusatzdienst ist der „Werkstattruf“. Bleibt ein Fahrzeug mit einem Schaden liegen, klicken die Fahrer auf diese Werkstattruf-App. Die schickt über einen zweiten Kanal der eCall-Box eine Nachricht in das Call-Center ihres Autoherstellers. Die Call-Center-Mitarbeiter nehmen den Schaden auf und schicken einen Werkstattwagen. Die folgende Rechnung ist so einfach wie brutal: Das Unternehmen, das als erstes bei einem liegengebliebenen Fahrzeug ankommt, hält alle weiteren Prozesse in der Hand.
Kein Wunder, dass in Brüssel die Nerven blank liegen. Denn es geht um atemberaubende Summen: Der Markt in Deutschland allein für den Service der Kfz-Betriebe – dazu zählen Lohn, Teile und Zubehör – hat laut dem Zentralverband Deutsches Kfz-Gewerbe einen Wert von 32 Milliarden Euro. Innerhalb eines Jahres setzen die Unternehmen in Europa nach Angaben von CECRA mit Kunden- und Teiledienst sogar 170 Milliarden Euro um – das sind Tag für Tag sagenhafte 465.753.424 Euro.
Das Fachmagazin carIT berichtete Anfang dieser Woche als erste Publikation über diese ertragreichen Zusatzdienste über die E-Call-Box-Kanäle. Im Interview mit dem Magazin zeigte sich Bernfried Coldewey, Projektmanager Telematik, ADAC e.V. darüber erstaunt, dass „bei dem jetzigen Gesetzentwurf der gesamte wettbewerbliche Aspekt rund um die Zusatzdienste komplett außen vor ist und dass hier keine gesetzliche Regelung vorgesehen ist.“
Tatsächlich liefen die Versicherungen, die freien Werkstätten und auch der Automobilclub Sturm. Pikanterweise protestierten sie, weil sie selber Anspruch auf den Zugriff auf die Daten aus den Fahrzeugen erheben. Denn auch sie wollen mit den Telematikdiensten über die Funkverbindung der eCall-Box Geld verdienen, beispielsweise selber eine Werkstattruf-App anbieten. Deshalb forderten sie, dass die EU die Zusatzdienste in den eCall-Gesetzen regelt.
Sie haben sich nur teilweise durchgesetzt – und so sieht der heute veröffentlichte Gesetzentwurf eher wie ein Kompromiss zwischen den beiden Seiten aus: Es wird zwar eine offene Telematik-Plattform in den Autos geben, die über die eCall-Schnittstelle kommuniziert, aber sie wird nicht vor 2018 bereit stehen.
So können die Verbraucher bis dahin eben nicht frei wählen, wer die Zusatzleistungen für sie erbringt – beispielsweise sein Versicherer, eine freie Werkstatt, der Automobilhersteller, Assisteur oder Automobilclub. Und es wird die Gefahr bestehen, dass die Autobauer ihre Kunden nach einem Unfall bevorzugt in eigene Niederlassungen lotsen.
„Was die über den eCall hinausgehende Frage der Nutzbarkeit von im Fahrzeug verfügbaren Daten für weitere Dienste angeht, so ist die Automobilindustrie bereit, gemeinsam einen Lösungsansatz zu entwickeln. Dabei müssen aber alle Anforderungen an Verkehrs- und Funktionssicherheit, Datensicherheit und Datenschutz zwingend erfüllt sein“, verspricht der Verband der Automobilindustrie.
Es ist keine Frage – der VDA ist eindeutig in der besseren Position, die Autoindustrie kann sich zurücklehnen. Denn inzwischen hat die Branche – unter Führung der Premium-Marken – damit begonnen, eine eigene, private eCall-Infrastruktur aufzubauen. Der Schlüsselgedanke ist, dass sich die Hersteller außerhalb der von der Europäischen Union vorgegebenen eCall-Gesetzgebung bewegen. Denn hier handelt es sich um ein privatwirtschaftliches Rettungsangebot.
Die sogenannte „private“ Notruf-Box – das neue Gesetz bezeichnet sie als „eCall-Supported Third Party Services“ – im Fahrzeug löst zwar ebenfalls nach einem Unfall einen Rettungsruf aus. Der geht aber nicht an die 112. Vielmehr landet dieser Anruf zunächst bei einem der über die Welt verteilten Call-Center, die ein Dienstleister für oder gemeinsam mit dem Autohersteller betreibt.
Laut Darstellung eines Sprechers von Daimler werde der Anruf in der Sprache des Verunglückten angenommen und an die, dem Unfallort am nächsten gelegene Rettungsstelle weitergeleitet. „Private Notruflösungen sind bereits seit Jahren im Markt etabliert und leisten schon heute einen Beitrag zur Verbesserung der Verkehrssicherheit. Der europäische Gesetzgeber hat sich allerdings entschlossen, verpflichtend einen eCall einzuführen“, erklärt der VDA weiter. Das neue Gesetz erlaubt die privaten Notruflösungen, schreibt aber den öffentlichen eCall als zweite Lösung im Fahrzeug vor.
Kfz-Handwerk, Lohn Teile Zubehör Umsatz in Milliarden Euro inkl. MWst. | |
2008 | 28,0135 |
2009 | 28,1036 |
2010 | 28,9524 |
2011 | 29,3061 |
2012 | 30,2423 |
Hierum streiten sich Verbände und Lobbyisten: Derjenige, der einen Pannenservice zum Unfallort schicken kann, wird große Teile des Werkstattnetzes kontrollieren. Hier winken den Herstellern, Werkstätten, Versicherungen, Pannendiensten und Automobilclubs Milliardenumsätze, die nach der Verabschiedung der eCall-Gesetze neu aufgeteilt werden könnten. Während der Umsatz der Werkstätten seit Jahren stetig wächst und inzwischen einen Wert von fast 31 Milliarden Euro erreicht hat, stagnieren gleichzeitig die Anzahl der Kfz-Betriebe und der dort Beschäftigten.
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