Roland Busch, seit einigen Tagen neuer Technologiechef von Siemens, machte klar, wo sich der Hersteller im Feld der Wettbewerber in seinen Kerngeschäftsfeldern Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung selbst verortet – nämlich ganz vorn: „Niemand auf dem Markt hat so viel Erfahrung, so viele unterschiedliche Geräte im Internet of Things und einen so umfassenden, eng integrierten und ebenenübergreifend durch intelligente Software unterstützten Ansatz wie wir“, sagte der Manager. Die Digitalisierungsstrategie zahle sich aus: Der Konzern wachse derzeit mit 12 Prozent jährlich und liege damit über dem Markt.
Allein 70 Millionen Smart Meter, so Busch, stammten weltweit von Siemens, dazu unzählige andere Gerätschaften, von der unscheinbaren Steuerung bis zu hochkomplexen Gerätschaften – sei dies nun eine Gasturbine oder ein ICE. Sie alle sollen in den nächsten Jahren mit Sensoren und Kommunikationsmöglichkeiten ausgerüstet werden, sofern das noch nicht der Fall ist, und ihre Daten an das umfassende „Betriebssystem für das Internet der Dinge“, Mindsphere, schicken. Diese IoT-Anwendungsplattform soll den Betreiber der Endgeräte mit Hilfe intelligenter, lernfähiger Algorithmen dabei unterstützen, beispielsweise intelligente Stromnetze zu steuern – eine der heikelsten Aufgaben in der heraufdämmernden, total digitalisierten und vernetzten Welt. Wichtigster Konkurrent auf diesem Gebiet ist übrigens der Datenbankanbieter Oracle, der allerdings selbst keine Smart Meter herstellt.
„Gerade in der Vernetzung zwischen dem IT-Wissen einer- und dem Domänenwissen aus Stromnetzen, Verkehrssystemen, der Medizintechnik oder der Gebäudeautomatisierung andererseits liegt unsere Einzigartigkeit“, betonte Horst J. Kayser, Chefstratege des Gesamtunternehmens, in seinem Vortrag. Bei der Auslagerung der Medizintechnik, die rechtlich selbständig werden soll, so erklärte Technologieleiter Bosch im Gespräch mit der Autorin, handele es sich keinesfalls um ein Abweichen von diesem Weg, sondern lediglich um eine Maßnahme, um der sehr spezifischen Struktur und den Marktgegebenheiten dieses Themas besser gerecht zu werden. Siemens wolle aber hier auf jeden Fall engagiert bleiben.
In den intelligenten Algorithmen von Mindsphere jedenfalls soll sich das Domänenwissen mit den IT-Fähigkeiten zum Beispiel zur Echtzeitanalyse von Daten so verbinden, dass optimale Steuerungsergebnisse mit positiven Effekten entstehen, etwa in Bezug auf die Ressourceneinsparung. Dank Mindsphere und mehreren hundert Sensoren gestaltet sich etwa die Verbrennung in Siemens-Gasturbinen mittlerweile erheblich effizienter als dies bisher möglich war.
Doch auch der Produktionsprozess wird mittels einer Rückkopplungsschleife direkt von Mindsphere beeinflusst. Denn die bei der Nutzung der großen und kleinen Endsysteme gewonnenen Daten fließen direkt an den Produktions- und Designprozess der von Siemens stammenden Endgeräte zurück. Sie beeinflussen damit, wie die nächste Produktgeneration der entsprechenden Lösung gestaltet wird. „Damit haben wir den Kreis geschlossen“, betont Kayser.
In Zukunft wird bei Siemens nicht nur jedes Endgerät mit digitaler Intelligenz ausgerüstet. Vielmehr beginnt der Einsatz von intelligenter Software schon ganz am Anfang des Designprozesses. Er ist dank des kürzlich erfolgten Ankaufs von Mentor Graphics, einem wichtigen Anbieter von Designlösungen für Elektronik, beispielsweise für Leiterplatten, nun umfassend mit entsprechender Software unterlegt. Die von den einzelnen Tools erzeugen Daten laufen in dem Werkzeug Teamcenter zusammen. Bei Bedarf werden auch wieder Daten an die entsprechende Komponente im Designzyklus zurückgespielt – etwa, wenn sich herausstellt, dass ein bestimmtes Gerät unter bestimmten Umgebungsbedingungen nicht funktioniert oder das Design die Produktion behindert.
Durch entsprechende Simulationstools unterstützt werden das mechanische, das elektrische, durch Mentor Graphics nun auch das elektronische Design sowie die Simulation der Umgebungsbedingungen. Die entsprechenden Tools hat sich Siemens teils durch Zukäufe, teils durch Kooperationen zugänglich gemacht, beispielsweise durch die im November verkündete enge Zusammenarbeit mit Bentley, wo man über sehr gute 3D-Werkzeuge verfügt, während Siemens vor allem bei 2D stark ist. Zudem will man gemeinsam 50 Millionen in neue Lösungen investieren. Durch die Kopplung der unterschiedlichen digitalen Softwareprodukte, die Entwicklung und Produktion unterstützen, entsteht ein kompletter „digitaler Zwilling“ des jeweiligen Siemens-Erzeugnisses.
Doch nicht nur alle Designstufen sind miteinander verbunden. Vielmehr ist auch der gesamte Fertigungsprozess in die übergreifende Innovationsschleife eingebunden: Ist ein Produkt fertig entwickelt, wird im Rahmen digitaler Simulationsläufe zunächst der optimale Produktionsablauf simuliert. Ecken und Kanten in diesem Stadium können durchaus an den Designprozess zurückgespielt werden und dort Änderungen auslösen. Erst wenn der „digitale Zwilling“ auch in den simulierten Produktionsabläufen gut funktioniert, nimmt das Unternehmen die Produktion tatsächlich auf und spielt deren Daten wiederum in den digitalen Zwilling zurück, um gegebenenfalls weitere Optimierungen zu bewirken. Diese Methodik zieht sich von Anfang bis Ende durch den ganzen Weg eines Produktes.
Dabei spielen auch Partnerschaften eine Rolle – die neueste gab Siemens in München bekannt. IBM Watson soll mit Mindsphere gesammelte Daten analysieren. Kunden sollen auf die Analysedaten in Form von Dashboards Zugriff haben, auch Entwickler und Datenanalysten sollen über Schnittstellen Zugriff auf Watson-Technologien bekommen. Big Blue, das ja ein München seinen weltweit zentralen Watson-Standort betreibt, soll zudem Apps für Mindsphere schreiben.
Insgesamt sollen die intelligenten Analysen so viel Mehrwert für die Kunden erzeugen, beispielsweise durch effizienteres Arbeiten der Lösungen, vermiedene Ausfälle oder optimierte Wartungseingriffe erzeugen, dass sie gern bereit sind, an Siemens auskömmliche Preise für Produkte oder Dienste zu entrichten. Siemens steht dabei auf dem Standpunkt, dass der Kunde selbst entscheidet, ob er Dateneigner der von den Geräten erzeugten und von Mindsphere ausgewerteten Daten sein will oder nicht: „Wem das Gerät gehört, sollen auch die Daten gehören“, betonte Peter Weckesser, Chief Operating Officer Digital Factory PLM. Wer also Geräte nur mietet, verzichtet auf die Datenhoheit, wer kauft, kann Siemens immer noch den Zugriff auf bestimmte Nutzungen und Daten einräumen. Folgerichtig wird Mindsphere den Kunden als Service, als on-Premise-Produkt oder als Plattformlösung aus der Cloud angeboten. Die Preisstruktur befindet sich derzeit noch in Verhandlung.
Damit der Innovationskreislauf kräftig angekurbelt wird, stellte Siemens in München auch noch eine weitere Neuerung vor: Next47, eine Art Inkubator unter der Leitung von Lak Ananth, der zuvor ein ähnliches Projekt bei Hewlett Packard leitete. Next47 soll nach vielversprechenden Startups rund um die Welt und in unterschiedlichen Branchen suchen, die die Probleme der Zukunft lösen. Im Gegensatz zu bisherigen VC-Bestrebungen des Unternehmens „werden wir uns hier nicht an Siemens` Kerngeschäftsfeldern orientieren“, sagt Ananth.
Um neue Firmen zu unterstützen, stellt Siemens über einen Zeitraum von fünf Jahren ein Budget von einer Milliarde Dollar bereit. „Wir wollen nicht von oben herab mit diesen Partnern verhandeln, sondern uns klein für sie machen“, sagte Ananth und erläuterte dann, was damit gemeint ist. „Es ist ein großer Erfolg, wenn wir einem solchen Startup einen Kontakt zu einem Kunden vermitteln, der dann den wirtschaftlichen Plan um zehn Prozent verbessert.“ Auch sonst investiert Siemens kräftig in Forschung und Entwicklung. Das Budget wurde soeben um 300 Millionen Dollar auf fünf Milliarden Dollar jährlich aufgestockt. Intensiviert wird auch die Ausbildung der eigenen Mitarbeiter in Sachen Digitalisierung – schließlich geht man davon aus, dass das bisher vorhandene Kontingent von 250 Datenanalysten kaum für die nächsten Jahre ausreichen wird.
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