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Die technischen Schulden steigen – und das ist auch gut so

Ob im Privaten, in der Wirtschaft oder in der Politik – Schulden genießen keinen sonderlich guten Ruf. Was dabei oftmals übersehen wird: Schulden können sich durchaus rechnen. Das gilt zum Beispiel im Hinblick auf die digitale Transformation. Der „Reality Check 2022“, eine Befragung im Auftrag der Software AG unter 738 IT-Entscheidern in Deutschland, den USA, Großbritannien und Frankreich kommt zu dem Ergebnis, dass dreiviertel aller Unternehmen (78 Prozent) im vergangenen Jahr mehr technische Schulden aufgenommen haben. Und 2022 hat nur bei 15 Prozent von ihnen der Abbau derselben höchsten Priorität. Doch das ist keine schlechte Nachricht. Vielmehr zeigen solche Zahlen, dass die digitale Transformation weiter an Fahrt aufnimmt – und viele IT-Entscheider zunehmend besser verstehen, welchen Regeln dieser Wandel folgt.

Bei der digitalen Transformation geht es nämlich immer erst an zweiter Stelle um Technologien oder die Implementierung verschiedener Tools und Plattformen. Im Vordergrund stehen zunächst ein kultureller Wandel und eine neue Form des Denkens. Dazu gehört ein Bekenntnis zum Minimum Viable Product (MVP) – also zu einer Produktausführung, die nur mit rudimentären Funktionen ausgestattet ist und in iterativen Prozessen fortwährend weiterentwickelt wird. Die Co-Geschäftsführerin von Meta Platforms, Sheryl Sandberg, hat die dahinterliegende Philosophie einst mit dem Satz zusammengefasst: „Done is better than perfect.“

Statische Perfektion vs. fortwährende Innovation

Mit dem Anspruch vieler deutscher Unternehmen war so ein Ansatz in der Vergangenheit nur sehr schwer in Einklang zu bringen. Welche Folgen das haben kann, zeigt ein Blick in die Automobilindustrie: Während Konkurrenten wie der US-Hersteller Tesla bereits ständig mit neuen digitalen Features begeistertet, referenzierten Deutschlands Autoingenieure noch auf das perfekte Spaltmaß als Ausdruck der Ingenieurskunst im Fahrzeugbau. Das hat sich freilich in der jüngeren Vergangenheit drastisch verändert. Die digitale „Experience“ und Herausforderungen wie das autonome Fahren rücken immer stärker in den Fokus.

Richtig ist: MVPs produzieren technische Schulden. Doch sie ermöglichen es damit den Unternehmen, schneller und besser auf die Bedürfnisse von Kunden und Beschäftigten zu reagieren und Chancen, die sich ergeben, ohne lange Vorlaufzeiten zu nutzen. So halten auch 86 Prozent der im „Reality Check“ befragten IT-Entscheider technische Schulden dann für gerechtfertigt, wenn sie dabei helfen, Produkte und Dienstleistungen schneller auf den Markt zu bringen. Mit 44 Prozent führt nicht einmal die Hälfte der Unternehmen die eigenen technischen Schulden auf eine komplexer gewordene Infrastruktur oder Ähnliches zurück. Mit anderen Worten: Technische Schulden sind längst zu einem strategischen Asset geworden, das immer mehr Unternehmen zugunsten der eigenen Geschäftsentwicklung zu nutzen verstehen.

Die Kunst, die eigenen Schulden im Griff zu behalten

Wer als Privatperson ein Haus finanziert, der macht Schulden. Ein Unternehmen, das Kredite aufnimmt, um in die eigenen Produktionskapazitäten zu investieren, macht Schulden. In beiden Fällen gelten diese Verbindlichkeiten als unproblematisch, solange sie sich managen lassen. Bei den technischen Schulden verhält es sich nicht anders. Genau hier liegt die eigentliche Herausforderung in den kommenden Jahren. Nur 42 Prozent der befragten Unternehmen geben nämlich an, über eine Strategie zum Managen ihrer technischen Schulden zu verfügen. Das ist umso bemerkenswerter, da die Firmen zuletzt gut ein Viertel (24,8 Prozent) ihres IT-Budgets für das Handling dieser Schulden aufwenden mussten.

Nun waren viele Unternehmen mit dem Beginn der Pandemie gezwungen, einen Kaltstart in Sachen digitale Transformation zu proben, um ihre Beschäftigten in einer Remote-Umgebung produktiv zu halten und gleichzeitig die Bedürfnisse der Kunden zu befriedigen. Die technischen Schulden waren dabei oftmals eine Notwendigkeit. Mit 83 Prozent räumt eine absolute Mehrheit der Befragten ein, dass die Bereitschaft, im eigenen Unternehmen technische Schulden zu akzeptieren, im Zuge der Pandemie gestiegen sei.

Vom Ad-Hoc-Modus zurück in den neuen Normalbetrieb

Wird das Rad nach der Krise also zurückgedreht? Wohl kaum. Mit 5G (45 Prozent), Cloud-Computing (42 Prozent) und dem Internet of Things (36 Prozent) zählen genau jene Technologien zu den Top-Investitionsvorhaben der Unternehmen in diesem Jahr, die 2021 am stärksten zum Aufbau technischer Schulden beigetragen haben.

Umso dringender ist es nun jedoch, aus dem Ad-hoc-Modus der Pandemie herauszukommen, die technischen Schulden unter bestimmten Bedingungen als Teil der eigenen Strategie zu definieren und sich immerzu selbst die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang zu stellen: Wie behalten wir sie unter Kontrolle? Nur so können Unternehmen nämlich dauerhaft von den Vorteilen profitieren, die sie ihnen bieten, ohne an den Herausforderungen zu scheitern. Denn auch hier verhält es sich wie bei allen anderen Schulden: Fehlt die Kontrolle, droht das Chaos.

Der mit Abstand größte Hebel, technische Schulden von vorneherein zu umgehen, ist die Vermeidung von Eigenentwicklungen von Funktionen, die es schon auf dem Markt gibt. Das heißt, jemand anderes hat die technischen Schulden schon getilgt. Insofern ist die alte Alternative „build or buy“ nicht mehr zeitgemäß. Es sollte besser heißen „build AND buy“ und somit weniger technische Schulden und schnellere Marktverfügbarkeit.

ZDNet.de Redaktion

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