ERP im Mittelstand: Die Konsolidierung bleibt aus

„Die erwartete Konsolidierung des ERP-Markts im Mittelstand ist nicht eingetreten“, konstatiert Karsten Sontow, Vorstand der Trovarit AG in Aachen. Noch immer spielen neben den großen Generalisten viele Nischenanbieter eine bedeutende Rolle. Der Markt bleibt für die Anwender unübersichtlich. Die kürzlich veröffentlichte Trovarit-Studie „ERP-Praxis im Mittestand“ listet über 300 Produkte auf – und das ohne die zusätzlichen Varianten einer Software zu berücksichtigen.

„Das wird sich mittelfristig auch nicht ändern“, glaubt PAC-Analyst Frank Niemann. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Die Ansprüche des Mittelstands an die Leistungsfähigkeit der ERP-Software sind genauso hoch wie die bei großen Unternehmen. Hinzu kommt, dass der Mittelstand sehr spezifische Anforderungen hat. „Die Software dringt immer tiefer in die Prozesse ein“, erklärt Niemann. „Um Unternehmensabläufe in Funktionalitäten wie Lieferkettenverwaltung, Customer Relationship Management, Produkt-Lifecycle-Management und Business Intelligence zu integrieren, braucht es Spezialisten, die erstens die Branche kennen und zweitens die Sprache des Mittelständlers sprechen. Daher ist am Markt auch in Zukunft noch Platz für kleinere Lösungsanbieter.“

Eine Sache der Kommunikation


Frank Niemann, Analyst beim Beratungsunternehmen Piere Audoin Consultants (Bild: PAC)

Diese oft zitierte besondere Anforderung des Mittelstands ist nicht neu. Sie liegt in der Natur der Sache. Mittelständler haben oftmals keinen CIO, für den das IT-Vokabular zum täglichen Brot gehört. Sie kennen zwar ihre Prozesse ganz genau, sie aber mit den Möglichkeiten einer Software zu verbinden, fällt ihnen oft schwer. Dieses Kommunikationsproblem zu lösen, ist Aufgabe der Berater. Und die Fähigkeit des Beraters, sich in die Köpfe seiner Kunden hineinzuversetzen, entscheidet über die Dauer der Implementierung und die Zufriedenheit der Kunden.

Die großen Softwarehäuser tun sich damit immer noch schwer. Als Generalisten bedienen sie oftmals eine Fülle von Branchen und kümmern sich aufgrund ihrer Historie eher um Großunternehmen. Die kleineren Anbieter sind sehr dicht an den Bedürfnissen ihrer Kunden – ein Vorteil, der sich auszahlt.

Bestandskundenpflege

Dennoch wird es für sie in Zukunft nicht einfacher. Trovarit-Experte Sontow sieht eine „Erstarrung der Anwender“. Er beschreibt damit die Tatsache, dass ein kompletter Systemwechsel immer seltener wird, weil Firmen inzwischen wissen, wie komplex und umfassend ein ERP-Projekt sein kann. „Ein Mittelständler kauft eine komplett neue Software alle 15 bis 20 Jahre und nicht wie bisher immer kolportiert wurde, alle 8 bis 10.“

Auf den ersten Blick scheint das ein Vorteil für die kleineren Anbieter zu sein. Sie können ihre Branchenkenntnis ausspielen und mit Bestandskunden langfristig planen. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass das Neukundengeschäft für sie immer schwieriger wird. Der Grund: Um ihre Produkte zu modernisieren müssten sie viel Geld in Entwicklungskosten stecken. Geld, das sie nicht haben. Ihnen bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder sie bauen auf die Plattform eines großen Anbieters ihre Software neu auf oder sie werden Partner eines Generalisten und spielen ihre Stärke in einer Branche aus. Ihr „altes“ System pflegen sie weiterhin. „Der Trend zum Systemhaus ist deutlich sichtbar“, sagt Sontow.

Auswahl nur nach Funktionalität ist überholt

Der Markt bleibt für die Anwender in Zukunft weiter unübersichtlich. Für die Entscheider wird es immer schwieriger, eine optimale Entscheidung zu treffen, die einen zeitintensiven Auswahlprozess erfordert. „Die am Markt aktiven Anbieter reklamieren für sich, die Anforderungen von Unternehmen mit ihrer Software weitgehend abdecken zu können“, sag Axel Oppermann, Advisor bei der Experton Group. „Unter der Haube unterscheiden sich die ERP-Standardlösungen jedoch erheblich.“


Axel Oppermann, Advisor bei der Experton Group (Bild: Experton Group).

Für Anwender resultiere daraus ein deutliches Maß an Unsicherheit. Sie können oftmals nicht beurteilen, wie leistungsstark die jeweilige Software in Hinsicht auf das Abdecken der eigenen Erfordernisse ist und welcher Aufwand erforderlich ist, um diese Leistungsfähigkeit bereit zu stellen. „Anbieter müssen ihre Leistungen vergleichbar machen und ihre Expertise anhand nationaler und branchenspezifischer Fallstudien belegen“, fordert Oppermann deshalb.

Es wäre aber zu einfach, den Anbietern allein die Schuld an diesem Dilemma zu geben. „Das Hauptaugenmerk bei der Auswahl liegt noch immer vornehmlich auf den Anschaffungskosten und dem Implementierungsprozess“, sagt Oppermann. Ein gezieltes Auswahlverfahren nach Technologie- und Architekturansätzen oder Business-Unterstützung finde nur selten statt. Zentrale Aspekte wie Prozessorientierung, Benutzerfreundlichkeit, Flexibilität und Integration berücksichtigen die Entscheider nur oberflächlich. Fast immer werten sie nach dem Kriterium der reinen Funktionalität aus. „Dieser Aspekt ist nicht mehr zeitgemäß„, sagt Oppermann. „Denn über die notwendigen Basisfunktionalitäten verfügen alle ERP-Lösungen mehr oder minder .“

Softwarepakete sind zu komplex

Der Fokus auf die reine Funktionalität fördert ein altes Problem zu Tage. Wie die Trovarit-Studie belegt, beklagen die Anwender immer noch die Komplexität der Software-Pakete. Sie fordern eine schlanke Implementierung bei bestmöglichster Funktionalität. Natürlich: Ein ERP-Systemwechsel ist eine komplizierte Angelegenheit. Das liegt in der Natur der Sache. Aber: „In der Vergangenheit war der Abstand zwischen Kundenanforderungen und Software sehr groß“, erklärt Sontow. „Die Anwender waren mit den Möglichkeiten der Software überfordert, da sie bei der Implementierung hunderte von Fragen beantworten mussten, mit denen sie nichts anfangen konnten, die das System aber brauchte, um zu funktionieren.“ Dieses Problem haben Anbieter inzwischen die erkannt. Mit Templates, konfigurierten Branchenlösungen, Standardisierungen und rollenbasierten Arbeitsplätzen konnten sie die Komplexität verringern. „Das Ende der Fahnenstange ist allerdings noch nicht erreicht“, stellt Sontow fest.

Datenmigration: das böse Erwachen

Apropos Probleme: Die Datenmigration ist immer noch ein Ärgernis. Es ist sogar mit Abstand das größte. Die Erklärung dafür klingt einfach. „Bei den Einführungsprojekten wird das entweder unter den Tisch gekehrt oder vergessen“, sagt Sontow. Die Situation ist wie bei einem Umzug: Die Wohnung ist leer, bleibt nur noch der Keller. Und da kommt meist das böse Erwachen.

Der Vorwurf trifft jedoch beide Seiten: Die Unternehmen machen die Augen zu, obwohl sie wissen, wie schlecht die Datenqualität ist. Die Berater wissen es ebenfalls, sprechen es aber meist nicht an, weil sie damit kein Geld verdienen. Zwar scheitert das Projekt nicht an der Datenmigration, aber es gerät oft genug aus dem Tritt, dauert deutlich länger und wird deutlich teurer. „Das wird sich sobald auch nicht grundsätzlich ändern“, glaubt PAC-Analyst Niemann. „Es liegt in der Natur der Sache, weil die Unternehmen keine homogene Datenhaltung haben. Dieses Problem tritt oft erst mit einem solchen Projekt auf.“

Fazit

Für die Entscheider bleibt die Auswahl des richtigen Partners die größte Herausforderung. Eine strukturierte und systematische Selektion ist neben dem Faktor Mensch zwingend notwendig. Neben der Frage, was eine Lösung kann, ist auch die Frage zu beantworten, wie die Software die Anforderungen löst. „Nur weniger Hersteller verwenden bisher eine solche Vorgehensweise“, beklagt Experton-Analyst Oppermann. Es wäre aber möglich – ist die bisherige Praxis doch nicht durch Sachzwänge diktiert.

ZDNet.de Redaktion

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