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Das Berliner Start-up-Wunder

Noch vor einigen Monaten galt Berlin als graue Maus in Bezug auf IT, aber das hat sich rasant geändert: Nicht nur die deutsche Presse hat die Hauptstadt als Petrischale für Web-Start-ups entdeckt, auch die internationalen Branchenblätter. Und – was für die jungen Berliner Firmen vielleicht noch wichtiger ist -, in deren Gefolge beginnen auch die internationalen Investoren, ein Auge auf die Vorgänge in der Stadt zu werfen.

Erste Anzeichen gab es jedoch schon länger. 2009 hat die TSB Innovationsagentur Berlin eine Zwischenbilanz ihrer Arbeit im ITK-Segment vorgelegt. Damals waren in und um Berlin rund 40.000 Menschen in über 3000 meist mittelständischen IKT-Unternehmen beschäftigt. Zum Vergleich: Am Standort München beschäftigen sich gut 52.000 Mitarbeiter in rund 10.000 Firmen mit Software, Daten- und IT-Services, E-Commerce, Netzbetrieb oder -bereitstellung sowie IT-Bauteilen und Komponenten.

An den Zahlen dürfte sich nicht allzu viel geändert haben. Allerdings steht Berlin trotz der mengenmäßigen Überlegenheit der Bayernmetropole jetzt im Mittelpunkt einer Web-Start-Up-Euphorie, einer zweiten Dotcom-Welle oder wie immer man das bezeichnen will. Und zwar weniger mit Firmen, die IT schaffen, sondern vielmehr mit Firmen, die IT und einige der durch das Internet entstandenen Möglichkeiten nutzen, um neue Geschäftsfelder und neue Geschäftsmodelle auszuprobieren.

Angefangen hat das vor zehn Jahren, als die beiden Samwer-Brüder ihr Auktionshaus Alando gründeten und es kurze Zeit später an Ebay verkauften – weshalb der Konzern seine Deutschlandzentrale noch heute in Kleinmachnow hat. Zu den erfolgreichen Berliner Internetideen der vergangenen Jahre gehört auch die Markencommunity Brands4Friends. Sie wurde vor fast einem Jahr für 200 Millionen Dollar ebenfalls von Ebay übernommen.


Die DailyDeal-Gründer Fabian und Ferry Heilemann (von links) bei der Übernahme ihres Unternehmens durch Google (Bild: DailyDeal).

Das Schnäppchenportal DailyDeal hat sich im September dagegen Google gesichert. Mit der Transaktion will der Konzern seinen Geschäftsbereich Commerce ausbauen. Zu diesem gehört auch der Dienst Google Offers, der nach dem fehlgeschlagenen Kauf von Groupon im Frühjahr dieses Jahres in den USA startete. Anfang August wurde dafür das von ehemaligen Microsoft- und Yahoo-Mitarbeitern gegründet US-Schnäppchenportal The Dealmap gekauft, das im Grunde genommen wie DailyDeal und Groupon arbeitet. Offenbar wollte man sich in Mountain View aber nicht nur auf die eigene und die in den USA zugekaufte Expertise verlassen, sondern hielt lokales Know-how und lokale Kundenbeziehungen für wichtig, um Groupon etwas entgegensetzen zu können.

Eine weitere Berliner Erfolgsgeschichte ist Zanox. Die Firma bezeichnet sich selbst als Spezialist für Performance Advertising und hat sich seit der Gründung im Jahr 2000 zum europäischen Marktführer entwickelt. Fast 700 Mitarbeiter in 12 Ländern sorgten im vergangenen Jahr für ein Werbenetzwerk mit über 70 Millionen Transaktionen. Was bei der mittlerweile mehr als zehnjährigen Erfolgsgeschichte dem speziellen Berlin-Faktor zuzuschreiben ist, beschreibt Zanox-Vorstandsmitglied Christian Kleinsorge so: „In den Anfangsjahren haben wir vom Sonderstatus Berlins profitiert, einem attraktiven Standort mit riesigem Einzugsgebiet und wenig Konkurrenz am Arbeitsmarkt.“


„In den Anfangsjahren haben wir vom Sonderstatus Berlins profitiert“, sagt Zanox-Vorstandsmitglied Christian Kleinsorge (Bild: Zanox).

Derzeit sind bei Zanox alleine in Berlin 60 neue Stellen zu besetzen – darunter 26 im Technologiebereich. Doch anders als vor zehn Jahren konkurriert das Unternehmen mittlerweile mit vielen innovativen und gut finanzierten Start-ups. „Dennoch sind wir uns sicher, dass es für unseren Weg der Internationalisierung keinen besseren Standort gibt als Berlin“, sagt Kleinsorge. Die Stadt habe insbesondere international eine ungebrochene Anziehungskraft.

Andere sind einfach in Berlin, weil für sie gar nie ein anderer Standort in Frage kam. Dazu gehört zum Beispiel Zimory. Das Unternehmen ist aus einem Forschungsprojekt der T-Labs, einer Einrichtung der Deutschen Telekom, hervorgegangen – und die befinden sich eben in Berlin. Beim Start 2007 stand zunächst eine Online-Plattform für den internationalen Handel mit IT-Infrastruktur-Ressourcen im Mittelpunkt. Mit der ging man 2009 an den Markt. Das ist heute anders: „Das Modell hat sich durch die Cloud-Euphorie inzwischen überholt, da keine Ressourcen mehr übrig sind, da die inzwischen jeder selbst anbieten will“, sagt Maximilian Ahrens, Mitbegründer und Vice President Products von Zimory.


Maximilian Ahrens, Mitbegründer und Vice President Products von Zimory (Bild: Zimory).

Als Start-up war Zimory aber flexibel genug, um den Schwerpunkt schnell zu verlagern. Inzwischen ist ein ursprünglich als Nebenaspekt behandeltes Thema in den Mittelpunkt der Geschäftstätigkeit gerückt: Software für potenzielle IaaS-Anbieter zu entwickeln und zu vertreiben. Das Produkt von Zimory kann sauber zwischen Ressourcen, Anbieter und Nutzer trennen. Das sei wichtig, damit Cloud-Kunden jederzeit die Kontrolle über ihre Daten, aber auch die dazugehörigen Metadaten behalten.

Die meisten Kunden von Zimory sind heute Provider, die Cloud-Services anbieten. Allerdings kann man durchaus auch eine Lizenz erwerben und die im Firmennetzwerk einsetzen – etwa wenn man eine oder mehrere private Clouds aufbauen will. Ein Kunde für dieses Szenario ist zum Beispiel der Betreiber eines zentralen Rechenzentrums für österreichische Behörden.

Kreatives Ambiente, niedrige Kosten und viel Internationalität

Angelockt werden die neuen Helden neben der allgemeinen Aufbruchstimmung durch die geringen Lebenshaltungskosten. „Es herrscht eine mutige Aufbruchsstimmung“, erklärt Sina Kamala Kaufmann, Unternehmenssprecherin von Wooga die Wahl des Standortes. Das Unternehmen ist einer der neuen heißen Kandidaten aus der deutschen Start-up-Metropole, die längst ins Blickfeld der großen Kapitalgeber aus den USA und Großbritannien geraten sind. Innerhalb von nur zwei Jahren hat sich der Anfang 2009 gegründete Spezialist für Social Gaming hinter Zynga weltweit auf den zweiten Platz vorgearbeitet; in Europa ist er die Nummer eins.

Es werden aber nicht nur Ideen aus den USA kopiert und nachgeahmt, sondern es entstehen auch eigenständige Konzepte mit Charme, zum Beispiel durch ResearchGate. Das von drei Forschern aus Boston entwickelte Konzept strebt als soziales Netzwerk für Wissenschaftler nach einer weltweiten Führungsrolle. „Berlin ist ein sehr internationaler Standort und auch für Mitarbeiter sehr attraktiv“, erklärt Geschäftsführer Ijad Madisch und begründet damit, warum die Wahl auf die deutsche Hauptstadt statt zum Beispiel auf San Francisco gefallen ist.

Ein weiteres Beispiel für eine „internationale“ Firmengründung in Berlin ist Soundcloud: Dessen Väter sind die beiden Schweden Alexander Ljung und Eric Wahlforss. Das Unternehmen sieht sich als Plattform für Musiker und Fans und will sich als Sammelstelle in der musikalischen Kreativlandschaft etablieren, als „YouTube für die Audioszene“.


Ein Teil der neuen, vielbestaunten Berliner-Start-up-Landschaft (Grafik: 6wunderkinder.com).

Aber auch mit einem Deutschen als Gründer kann eine junge Firma in Berlin international sein. Bestes Beispiel dafür ist Twago, das kürzlich den ersten „Deutschen Diversity-Preis“ erhalten hat. Die 36 Twago-Mitarbeiter kommen aus 11 Ländern. Führungsmanagement sowie Belegschaft bestehen zu 50 Prozent aus Frauen. „Diversity ist für uns keine Quote, Diversity macht uns besser. Wir brauchen die besten Mitarbeiter, um unser Wachstum von 27 Prozent monatlich beizubehalten. Egal, ob es sich um Mann oder Frau, Deutsche, Russen, Italiener oder Mexikaner handelt“, sagt Gunnar Berning, Gründer von Twago.


„Diversity ist für uns keine Quote, Diversity macht uns besser“, so Twago-Gründer Gunnar Berning (Bild: Twago).

Twago wurde 2009 gegründet und eigenen Angaben zufolge inzwischen der größte europaweite Marktplatz für Onlinearbeit. Er vermittelt Freiberufler für Dienstleistungen, die grundsätzlich von jedem Ort der Welt ausgeführt werden können, etwa Programmierung, Design und Unternehmensservices. Registriert sind derzeit 125.000 Experten aus 161 Ländern, die neben der deutsche über eine englische, spanische oder eine italienische Version des Portals erreichbar sind.

Ein Bericht über Wunder in Berlin wäre nicht komplett, ohne den vor 15 Monaten als Unternehmen gegründeten Anbieter 6Wunderkinder zu berücksichtigen. Das Unternehmen ist Urheber der Aufgabenverwaltungs-App Wunderlist. Sie ist in 30 Sprachen für mehrere Betriebssysteme und eine Vielzahl von Smartphones verfügbar und hebt sich aus der Masse der Tools durch Cloud-Synchronisation und einfache Bedienung hervor. Wunderlist hat es inzwischen in 104 Ländern zur „App der Woche“ in Apples App Store gebracht, hat 1,5 Millionen registrierte Nutzer und wurde mehr als 3,5 Millionen mal heruntergeladen. Der nächste Schritt, das Wunderkit, ist in Vorbereitung.

So viel Popularität und Aufmerksamkeit bleibt nicht ohne Folgen: Gerade heute hat das Unternehmen bekannt gegeben, dass die Londoner Investorengruppe Atomico unter Führung von Skype-Gründer Niklas Zennström, 4,2 Millionen Dollar investiert. Zusätzlich habe der Altinvestor, der deutsche High-Tech-Gründerfonds, sein Investment aufgestockt. Das Geld soll in erster Linie für neue Angestellte und zur Produktentwicklung von Wunderlist und Wunderkit verwendet werden. Letzteres werde private und berufliche Aufgaben an einem Ort vereinen und die Zusammenarbeit zwischen Freunden und Kollegen vereinfachen.
„Das Unternehmen hat ein hervorragendes Management, beweist bereits jetzt große Zugkraft auf dem Markt und hat enorme Chancen vor sich. Wir waren besonders beeindruckt von der internationalen Ausrichtung des Teams und dem Wachstumspotenzial auf dem weltweiten Markt“, sagt Niklas Zennström, Gründungspartner bei Atomico, in der Pressemitteilung.

Die Szene professionalisiert sich


Max Senges, bei Google Policy zuständig für externe Kooperationen (Bild: Google).

„Deutsche Universitäten haben noch viel nachzuholen, vor allem hinsichtlich der Unterstützung von Spin-offs“, gibt Ijad Madisch von ResearchGate zu bedenken. Aber auch hier zeichnet sich bereits eine größere Eigendynamik ab. Beispielsweise hat Google vor kurzem in Berlin das Institut für Internet und Gesellschaft gegründet. Die deutsche Metropole sei nicht nur die Hauptstadt des digitalen Deutschland, findet Max Senges, der sich bei Google Policy um externe Kooperationen kümmert: Sie locke vielmehr zunehmend Unternehmer an, die das Internet mitgestalten. „Start-ups wie Soundcloud, Wooga und Jovoto sind bereits jetzt sehr erfolgreich.“

Der Großraum Potsdam-Berlin biete eben höchste Lebensqualität: In 30 Minuten sei man im Zentrum von Berlin, erläutert Alexander Swoboda, CFO bei dem auf Automobilhersteller und -zulieferer ausgerichteten Dienstleister Facton. Das Potsdamer Unternehmen entwickelt für diese Kunden Softwarelösungen zur Kostenoptimierung in der Lieferkette.

Was für Außenstehende im lokalen Gründerbiotop bis dato reichlich unrealistisch klang, lässt sich mittlerweile durch hochkarätige Kooperationen und neue Deals erhärten. So kooperiert der Berliner Kapitalgeber Team Europe Ventures seit kurzem mit Hasso Plattner Ventures in Potsdam. Rund 20 Millionen Euro stehen für gemeinsame Onlineprojekte bereit. Überhaupt hat sich Potsdam im Schatten der Hauptstadt still und leise als feste Größe etabliert – wenn auch mit etwas anderem Schwerpunkt als diese.

Beispielsweise befindet sich an der Universität nicht nur das Hasso-Plattner-Institut für Softwaresystemtechnik, sondern sind auch zahlreiche weitere Ausgründungen von Forschungs- und Entwicklerteams angesiedelt. Und das Center for Enterprise Research am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Electronic Government hat sich als wichtige Anlaufstelle in ERP-Fragen entwickelt. Doch auch in diesem Feld hat Berlin seit kurzem etwas Neues zu bieten: Open-Office-Gründer Marco Börries versucht mit seiner Neugründung Number Four eine neue Art von ERP-Software zu etablieren.

ZDNet.de Redaktion

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