E-Mail sei etwas für alte Menschen, behauptete IBM-Manager Chris Crummey vor etwas mehr als einem Jahr auf der Frühjahrskonferenz der DNUG, der Vereinigung der deutschen Lotus-Anwender. Social Software werde der digitalen Post in der modernen Geschäftswelt den Rang ablaufen. Alistair Rennie, Chef der Collaboration-Sparte von IBM, stieß ins gleiche Horn: „Web-2.0-Technologie kann die Art und Weise verändern, wie Unternehmen ihre Arbeit erledigen.“ Mit E-Mail sei dies nicht möglich.
Solche Aussagen sind zwar provokant, aber von Vertretern eines IT-Herstellers, der Social Software in den Mittelpunkt seiner Produktstrategie gestellt hat, nicht ganz überraschend. Es gibt jedoch auch Anwender, die in der E-Mail keine Technologie mehr sehen, die den künftigen Anforderungen gerecht wird. Das Audiotechnik-Unternehmen Sennheiser führte zum Beispiel eine Social-Software-Plattform ein, um laut IT-Leiter Klaus Höling die Kommunikation, die Zusammenarbeit und das Wissensmanagement in der Organisation zu verbessern. „E-Mail reichte dafür nicht mehr aus“, erklärt Höling.
IT-Dienstleister Atos geht sogar noch deutlich weiter. Er will intern ganz auf die digitale Post verzichten. In drei Jahren sollen die Mitarbeiter untereinander keine E-Mails mehr austauschen. Stattdessen soll die Kommunikation über moderne Werkzeuge für die Zusammenarbeit wie etwa Instant Messaging und Web-2.0-Technik abgewickelt werden.
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„Wir nutzen zum Beispiel Collaboration- und Community-Plattformen für den Ideenaustausch, etwa zu Themen wie Innovationen, Lean-Management und Vertrieb“, berichtet Thierry Breton, CEO und Chairmann. Durch den Einsatz von Social Software und einer Lösung für Echtzeit-Collaboration konnte der IT-Dienstleister die E-Mail-Flut schon etwas eindämmen. Die Menge an elektronischer Post habe sich bereits um zehn bis 20 Prozent reduziert, vermeldete das Unternehmen vor einigen Monaten.
„Das E-Mail-Aufkommen in Unternehmen ist nicht mehr wirtschaftlich zu bewältigen“, glaubt Breton. Die Manager in den Firmen verbrächten zwischen fünf und 20 Stunden pro Woche damit, E-Mails zu schreiben und zu beantworten. „Außerdem ist es nicht sehr effizient, Mails mit riesigen Dateianhängen kreuz und quer durch das Unternehmen zu schicken“, behauptet IBM-Mann Crummey.
Social Software kommt in Firmen nur langsam an
Mit seiner Strategie ist Atos jedoch noch eine große Ausnahme. E-Mail-Technologie hat in den meisten Unternehmen nach wie vor einen hohen Stellenwert. Das bestätigt Reiner Gratzfeld, Vorstandsvorsitzender der DNUG, die immerhin über 500 Konzerne, IT-Dienstleister, Hochschulen und Einzelmitglieder vertritt. „Wir sind noch Jahre davon entfernt, dass die E-Mail-zentrierte Arbeit im Unternehmen von Social Media abgelöst wird.“
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DNUG-Vorstandsmitglied Jürgen Zirke fügt hinzu, dass Social Software in den Unternehmen zwar langsam ankomme – selbst in Firmen mittlerer Größe. Aber gerade Mittelständler wüssten häufig nicht, was sie mit den installierten Lösungen dann eigentlich anfangen sollten. Von einem Konzept, wie es Atos verfolgt, sind die meisten Unternehmen also noch weit entfernt.
„Es ist nicht zu erwarten, dass die E-Mail in naher Zukunft aus der Geschäftswelt verschwindet“, sagt Ed Brill, IBMs Director für Social Messaging und Collaboration (Bild: IBM).
Selbst IBM hält sich mittlerweile damit zurück, vorzeitig das Ende der E-Mail zu verkünden. Die Frage, ob es für ein Unternehmen tatsächlich möglich sei, E-Mail vollständig zu ersetzen, beantwortet Ed Brill mit einem klaren Nein: „Es gibt kein besseres Kommunikationswerkzeug für die persönliche Korrespondenz“, so IBMs Director für Social Messaging und Collaboration. Er zitiert sogar eine Studie des Marktforschungsunternehmens IDC, wonach die geschäftliche E-Mail-Nutzung weiter anwächst. Demnach wird es bis 2014 weltweit 970 Millionen Nutzer geben, die aus beruflichen Gründen elektronische Post verschicken und empfangen. „Es ist nicht zu erwarten, dass die E-Mail in naher Zukunft aus der Geschäftswelt verschwindet“, stellt Brill klar.
Der IBM-Mann glaubt aber, dass sich die E-Mail-Anwendung stark verändert hat. Das E-Mail-System hat sich seiner Meinung nach zu einer Plattform entwickelt, die dem Anwender alle wichtigen Nachrichten aus seinem sozialen Netzwerk zur Verfügung stellt – sei es die Informationen über einen neuen Kommentar zu einem Blog-Post, die Benachrichtigung, dass eine Datei in einem File-Sharing-Ordner bereit steht, oder eine Kontaktanfrage aus einer Community. „Die E-Mail-Posteingang ist zur Social Inbox geworden“, so Brill.
Gartner-Analyst Jeffrey Mann stimmt dieser Einschätzung grundsätzlich zu, denkt dabei jedoch eher an eine zukünftige Entwicklung. „Die E-Mail wird quasi zum Alarmsystem, das den Anwender stets auf dem aktuellen Stand hält“, meint Mann. „Die Clients werden dann nicht mehr so aussehen wie heute.“ Er glaubt, dass dies auch dringend notwendig sei, denn die Nutzer seien von der Fülle an verschiedenen Kommunikationskanälen wie Mail, Instant Messaging, Webkonferenzen oder sozialen Netzen überfordert.
Kampf der Oberflächen
Dass die Anwender eine Oberfläche brauchen, die E-Mail, Collaboration-Anwendungen und Social Software bündelt, haben mittlerweile auch die IT-Anbieter erkannt. Hersteller wie Cisco, Novell und IBM stellen Lösungen bereit oder arbeiten an solchen, mit denen sich die verschiedenen Technologien, die im Unternehmen bereits installiert sind, auf einer Plattform zusammenführen lassen. Als Nutzeroberfläche dient der Browser oder der Mail-Client. Analyst Mann glaubt, dass auch Microsoft künftig die Bündelung seiner Collaboration-Systeme ins Visier nehmen wird. Er geht davon aus, dass dabei Outlook als das zentrale Frontend fungieren wird.
Wird der Mail-Client als Oberfläche für alle Collaboration-Werkzeuge genutzt, kann ein konkretes Szenario wie folgt aussehen: Passend zu einer eintreffenden E-Mail erhält der Anwender Zugang zur Profilseite des Absenders aus einem sozialen Netzwerk. Aus dem Client heraus kann er eine Webkonferenz mit dem Absender und weiteren Kollegen aufbauen, einen Chat starten oder über Voice over IP ein Telefonat führen.
Die richtigen Werkzeuge für den richtigen Zweck
„Entscheidend ist es, die verschiedenen Werkzeuge im richtigen Kontext bereit zu stellen“, sagt Brill. Für jede spezifische Anforderung das passende Tool: IBM nennt ein solches Konzept „contextual collaboration“. Dieses ist laut Brill die Voraussetzung, dass Unternehmen sich zum so genannten Social Business wandeln können.
Auch Analyst Mann und seine Kollegen warnen davor, eine bestimmte Collaboration-Technologie nicht im passenden Zusammenhang zu nutzen und die entsprechenden Rahmenbedingungen nicht vorher abzustecken. „Ein Werkzeug auszuwählen, ohne die Rollen, Prozesse, Metriken und die Atmosphäre am Arbeitsplatz einzubeziehen, bedeutet, den Karren vor das Pferd zu spannen“, heißt es in einem Gartner-Report.
Aufgrund solcher Vorgaben können Unternehmen dann auch entscheiden, in welchen Szenarien die E-Mail besser durch einen anderen Kommunikationskanal ersetzt werden sollte. So ist etwa die digitale Post laut Mann ein schlechtes Hilfsmittel, wenn es darum geht, ein Feedback von einer großen Gruppe von Mitarbeitern abzufragen. Oder wenn Personen gemeinsam an einem Dokument arbeiten sollen. Auch IBM-Manager Crummey empfiehlt, Dokumente auf Cloud-Plattformen oder innerhalb von sozialen Netzwerken für alle beteiligten Mitarbeiter bereit zu stellen. Das Hin- und Herschicken von großen Dateianhängen gehört dann der Vergangenheit an.
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