Onlineshops mit Hürden sind „betriebswirtschaftlicher Unsinn“

Nur ein Viertel der Onlineshops in Deutschlands sind rundum barrierefrei. Damit grenzen die Betreiber Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen aus – und verschenken einen Milliardenumsatz. Eine neue EU-Verordnung zwingt die Onlineshops bald dazu, die Hürden aus dem Weg zu nehmen.

Das Ergebnis ist niederschmetternd und kaum besser als bei der vorherigen Untersuchung im Jahr zuvor: Mitte 2024 war nur rund ein Fünftel aller Onlineshops in Deutschland barrierefrei. Die Aktion Mensch, Stiftung Pfennigparade, BITV Consult und Google haben dafür einen Test entwickelt, der die Barrierefreiheit prominenter Onlineshops überprüft. Der Test wurde erstmalig 2023 durchgeführt und 2024 wiederholt. Im Fokus der Analyse standen die 500 meistbesuchten Firmen-Webseiten in Deutschland. Besonders aufmerksam betrachtet wurden dabei in diesem Jahr 71 Webseiten, die über einen kompletten E-Commerce-Webshop – angefangen bei der Suche bis hin zum Kaufabschluss – verfügten.

Mängel bei der Bedienbarkeit und störende Spielereien

„Mangelnde Tastaturbedienbarkeit“ war nach den Beobachtungen der Tester dabei die häufigste Barriere. Nur 15 von 71 getesteten Webseiten waren allein über die Tastatur und damit ohne Maus bedienbar. Dabei stellt die Tastaturbedienbarkeit für viele Menschen mit Behinderung eine Grundvoraussetzung für barrierefreie Nutzung dar. Weiterer Kritikpunkt der Aktion Mensch: „Die meisten der getesteten Webseiten bieten außerdem keinen sichtbaren Tastaturfokus.“ Nutzerinnen und Nutzer etwa mit eingeschränktem Sehvermögen können folglich nur schwer erkennen, welches Element sie gerade ausgewählt haben. „Hinzu kommen häufig fehlende Kontraste, was die Lesbarkeit von Texten oder das Identifizieren wichtiger Symbole beeinträchtigt. Auch eine falsche oder unlogische Tab-Reihenfolge macht es oft unmöglich, durch die Onlineshops zu navigieren, sich über Produkte zu informieren und diese auszuwählen. Eine weitere Hürde stellen eingeblendete Inhalte wie Banner oder Cookie-Overlays dar, die den Hauptinhalt der Webseite verdecken und sich nicht ohne weiteres schließen lassen“, schreiben die Tester den Shopbetreibern darüber hinaus kritisch ins Hausaufgabenheft.

Mancher mag jetzt denken: „ein Randproblem“. Abgesehen vom fragwürdigen Menschenbild, das durch solche Gedanken zum Vorschein kommt, wäre es ein schwerer ökonomischer Fehler, Menschen mit Beeinträchtigungen auszuschließen. 7,8 Millionen Menschen in Deutschland gelten als schwerbehindert. Das entspricht 9,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Bei 97 Prozent der Betroffenen war die Behinderung nicht von Geburt an vorhanden, sondern hat sich im Laufe des Lebens durch Unfall oder Krankheit herausgebildet, informiert Aktion Mensch. Vier von fünf Menschen mit Behinderung sind dabei 55 Jahre oder älter. Und gerade die wachsende Gruppe der Älteren hierzulande sind diejenigen mit gutem Einkommen und noch höheren Vermögen. Sie zu vergraulen mit ihren Einschränkungen, bedeutet auf Umsatz zu verzichten.

Bundesbeauftragter macht Druck

Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, sagt: „Barrierefreiheit ist das Betriebssystem für die Demokratie. Es ist für mich wichtig zu sagen, dass Unternehmen unprofessionell sind, wenn sie Homepages haben, die nicht barrierefrei sind.“ Und mit Blick auf das verschenkte Umsatzpotenzial wird Dusel noch schonungsloser: „Unternehmen geben viel Geld aus, um neue Käuferschichten zu erreichen. Wenn Onlineshops nicht barrierefrei sind, dann ist das betriebswirtschaftlicher Unfug.“

Barrierefreiheit bedeutet, dass alle Menschen digitale Angebote nutzen können, unabhängig von ihren körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Digitale Angebote sind vielfältig und umfassen Websites, mobile Apps, stationäre Terminals, Smart TVs, eBooks, und vieles mehr. Barrierefreiheit betrifft nach der Definition von der Europäischen Kommission „einerseits die äußere Form – sprich: das visuelle Design – andererseits auch die Funktionsweise eines digitalen Dienstes. Beide Aspekte müssen Hand in Hand gehen, um die Zugänglichkeit für alle Menschen in optimaler Weise zu gewährleisten.“

Guillaume Vaslin. Bildquelle: ENNO

Barrierefreiheit ist keine Extraseite für Behinderte, sondern eine Seite ohne Hürden

Guillaume Vaslin ist Gründer und Co-CEO der Agentur ENNOstudio in Berlin. Die Mission des Unternehmens lautet: Design immer und überall zu vereinfachen und seine Reichweite zu erweitern, damit es für möglichst viele Menschen zugänglich ist. „Dafür kombinieren wir Daten und Technologie, mit überzeugenden Storylines und Design. Schönes Design ist dabei kein Selbstzweck – vielmehr hat es die Aufgabe, wirklich alle Menschen zu erreichen und einzubinden. Daher sprechen wir gern über inklusives Design: Wir wollen sicherstellen, dass niemand von der Nutzung von Technologien ausgeschlossen ist“, sagt Guillaume Vaslin.

Der erfahrene Digitalexperte räumt zudem mit einem der größten Missverständnisse auf: „Eine barrierefreie Website ist keine separate Spezialversion für Menschen mit Behinderung. Viele Merkmale, die für die Barrierefreiheit wichtig sind, sind auch für die generelle Usability von entscheidender Bedeutung, wie zum Beispiel gute Kontraste von Text und Hintergrund oder große Klickflächen, die sowohl mit dem filigranen Mauszeiger als auch mit dem gröberen Finger gut zu treffen sind.“

Countdown zum Start der EAA-Richtlinie tickt

So notwendig es wäre, dass Unternehmen ihre Websites von sich aus komplett barrierefrei machen, so wenig ist – siehe die Tests von Aktion Mensch und Partnern – in den vergangenen Jahren passiert. Den Entscheidern in Brüssel ist das zu wenig. Daher wurde bereits im Frühjahr 2019 der „European Accessibility Act” („Europäischer Rechtsakt zur Barrierefreiheit”) als EU-Richtlinie verabschiedet. Bis Ende Juni musste die Richtlinie in nationales Recht überführt werden. Und noch wichtiger: Ab dem 28. Juni 2025 wird sie angewendet. Damit bleibt den Unternehmen kaum mehr ein Jahr Zeit, um sich vorzubereiten. Wer in Sachen Barrierefreiheit noch Nachholbedarf hat – und das ist die große Mehrzahl der Firmen und Shopbetreiber – muss sich jetzt also sputen. Die Richtlinie umfasst nicht nur Webseiten, sondern auch digitale Endgeräte und zahlreiche Anwendungen wie öffentliche Selbstbedienungsterminals, audiovisuelle Medien, eBooks, Kommunikations-, Bank- und Verkehrsdienstleistungen.

Wie es vorbildlich laufen kann, macht in diesem Fall Musterschüler Österreich vor: Bereits seit Anfang 2016 müssen dort beheimatete Onlineshops beispielsweise für Menschen mit Behinderung ohne fremde Hilfe zugänglich sein.

Design- und Digitalexperte Vaslin sagt: „Der EAA setzt einen neuen Standard für die Zugänglichkeit, die jedes digitale Produkt künftig erfüllen muss.“ Zugleich warnt er davor, die neue barrierefreie Welt mit alten Instrumenten und altem Vorgehen gestalten zu wollen: „Eine Anpassung der Design – und Entwicklungsprozesse ist unumgänglich, um den EAA-Anforderungen gerecht zu werden.“ Viel Zeit bleibt nicht mehr, der 28. Juni 2025 wird schneller da sein als gedacht.

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