Netzneutralität: „Die Kapazitätsdiskussion ist eine Scheindiskussion“

Die Diskussion um Netzneutralität ist dieses Jahr mehrfach wieder aufgeflammt. Dazu trugen einerseits durch Vorgänge in den USA bei, etwa die Gerüchte um Vereinbarungen zwischen Google und Verizon, die anschließenden Vorschläge von Google, die schwankende Haltung der US-Regulierungsbehörde FCC sowie dem letztendlich an den Republikanern gescheitertem Gesetzentwurf zur Netzneutralität.

Aber auch in Deutschland heizte sich die öffentliche Diskussion auf. Dazu wesentlich beigetragen hat Telekom-Chef René Obermann, der sich in Interviews mehrfach und mit zunehmender Schärfe dazu geäußert hat. Im März hatte er gegenüber dem Manager Magazin erklärt, die Telekom könne nicht alles umsonst anbieten. „Zahlen müssen diejenigen, die die Netze stark beanspruchen.“ Die Kosten für Anbieter sollten sich nach der benötigen Bandbreite richten: Je mehr Traffic ein Dienst verursache, desto höher wären die Gebühren. Ende Juli erneuerte er seine Forderung nach Zahlungen von datenintensiver Diensten.

„Diskussion um Netzneutralität ist eine Scheindiskussion“

Jetzt hat Obermann im Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit die Diskussion als Scheindebatte verurteilt: „Dass unterschiedliche Anwendungen unterschiedliche Netzgeschwindigkeiten erfordern, leuchtet vielen ein, aber sobald ein Preis ins Spiel kommt, flammt eine Debatte auf, als ginge es um Grundrechteentzug.“ Unterschiedliche Preismodelle gebe es schon heute, etwa bei E-Mail-Diensten und in Sozialen Netzen. „Wir wollen unterschiedliche Qualitätsstufen im Netz – nach klar definierten Kriterien und zwar für alle.“


René Obermann (Bild: Deutsche Telekom)

Laut René Obermann müssen die Kapazitäten von Internetverbindungen in Zukunft besser gemanagt werden: „Das heißt konkret, je nach Service unterschiedliche Qualitätsstufen bereitstellen – ohne den heutigen Standard zu verschlechtern.“ Als Beispiel nannte Obermann die Übertragung einer Fern-OP in der Telemedizin. Hier sei es wichtig, dass die Bilder in bester Qualität übertragen würden und schneller ans Ziel kämen als eine E-Mail, auf die man auch ein paar Sekunden länger warten könne. „Also müssen einige Datenpakete schneller übertragen werden als andere.“

Wer eine „zusätzliche Leistung“ in Anspruch nehme, also die höchstmögliche Bandbreite garantiert haben wolle, müsse auch mehr zahlen. Die Telekom könne nicht akzeptieren, Milliarden in den Ausbau des Netzes zu stecken, ohne neue Umsatzquellen zu erschließen. „Wir müssen trotzdem aufpassen, dass wir schnell genug sind. Sonst passiert das, was wir bei Wettbewerbern in einigen Ballungsräumen in den USA schon beobachten können: Gespräche brechen ab, von Videotelefonaten ganz zu schweigen, Filme ruckeln, im Netz entsteht ein Stau. Das müssen wir verhindern.“

Vodafone schließt sich den Telekom-Forderungen an

Mit seinen beharrlichen Vorstößen scheint Obermann die Forderung allmählich salonfähig gemacht zu haben. Im Juli sprang Vodafone-Deutschland-Chef Fritz Joussen in einem Interview mit der FAZ auf den Zug auf: „Ich bin sehr dafür, dass die Zugänge zum Netz diskriminierungsfrei sein müssen, trotzdem müssen wir im Wettbewerb Diensteklassen differenzieren können – also unterschiedliche Preise je nach Qualität und Leistung verlangen. Als Netzbetreiber muss man das Recht haben, in seinem Netz kommerzielle Angebote zu formen.“

Inzwischen hat seine Firma noch eins draufgesetzt, indem sie in einem Strategieupdate das Thema verankert hat und – wohl zumindest intern – einen Einführungsplan ausgearbeitet hat. „Wir arbeiten bereits daran diese Strategie umzusetzen und planen ein entsprechendes Tarifportfolio für mobile Datendienste. Ob dies noch in diesem Jahr kommt, kann ich allerdings nicht sagen“, sagte ein Vodafone-Sprecher wiederum gegenüber der FAZ.

Politiker schwenken auf die Linie der Großkonzerne ein

Offenbar hat das britische Unternehmen aber zumindest im eigenen Land auch bereits Fortschritte bei der Lobbyarbeit gemacht. Der britische Kommunikationsminister Ed Vaizey befürwortete diese Woche eine Zwei-Klassen-Abstufung von Internet-Traffic, wie die BBC berichtet: Unternehmen und Organisationen, die eine hohe Bandbreite beanspruchen, sollen dafür zahlen.

Auch Vaizey begründet seinen Vorstoß damit, dass ein Anreiz für Innovationen geschaffen werden müsse. Schließlich sei der Netzausbau gerade im mobilen Bereich für die Anbieter sehr teuer. „Das könnte die Entwicklung eines zweigeteilten Marktes beinhalten, in dem Anwender und Inhalteanbieter für unterschiedliche Servicequalitätsstufen bezahlen.“ Das Modell sieht also – anders als Obermanns Vorstöße – Gebühren sowohl auf Senderseite (Server) wie auch für Empfänger (Clients) vor. Eine gesetzliche Grundlage für eine solche Priorisierung könnte kommendes Jahr geschaffen werden, sagte Vaizey.

Auch die für den Bereich zuständige EU-Kommissarin Neelie Kroes scheint allmählich dem Druck nachzugeben. Während sie sich Januar 2010 noch entschieden zur Netzneutralität bekannt hatte, räumte sie im April ein, „das Internet ist nicht von Natur aus neutral“, und erklärte sich zu Gesprächen mit Interessenvertretern bereit.

In Deutschland haben sich inzwischen auch die Kabelnetzbetreiber für ein Gebührenmodell mit Abstufungen ausgesprochen. Internetunternehmen, die viel Datenverkehr verursachen, sollen mehr zahlen. Wer unter einer „Bagatellgrenze“ liegt, wäre befreit. „Wir benötigen eine Kostenbeteiligung von Anbietern, die starken Datenverkehr verursachen“, sagte Peter Charissé, Geschäftsführer des Verbands Deutscher Kabelnetzbetreiber (ANGA), der Tageszeitung Frankfurter Rundschau. Und Stephan Albers, Geschäftsführer des Bundesverbands Breitbandkommunikation (Breko) sieht durch eine Kostenbeteiligung sichergestellt, dass sich die notwendigen Investitionen für die Netzbetreiber lohnen.

Kapazitätsengpässe rechtfertigten keinen Eingriff in Dienste Dritter

Der Wunsch, sich neue Einnahmequellen zu erschließen, ist grundsätzlich sicher legitim, aber Details zur Umsetzung haben bisher weder Obermann, Vodafone noch die Kabelnetzbetreiber vorgelegt. Außerdem wurden rechtliche und ethisch-moralische Fragen von den Befürwortern solch neuer Bezahlmodelle bisher komplett ausgeklammert.

Und nicht alle Provider stimmen in das Konzert ein. Beispielsweise hat Sebastian von Bomhard, Vorstand des in München ansässigen Providers Spacenet, sich in einer Anhörung der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des Bundestags gegen die erhobenen Forderungen ausgesprochen. Der Provider-Chef hat aber auch darauf hingewiesen, dass seiner Ansicht nach sich der Begriff „Netzneutralität“ bei näherer Betrachtung einer klaren Definition entziehe. Nicht zuletzt ist er der Ansicht, dass die Kapazitätsdiskussion eine Scheindiskussion ist: Die ins Gespräch gebrachten Kapazitätsengpässe rechtfertigten keinen Eingriff in Dienste Dritter. Im Video-Interview mit ZDNet begründet von Bomhard seine Ansichten und Argumente.

ZDNet.de Redaktion

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