Nachrichtenmagazine, Tagesschau und Talkshows – sie alle kennen im Moment nur ein Thema: Die Affäre um Wikileaks und wie Gründer Julian Assange quasi über Nacht zum Staatsfeind Nummer 1 avanciert ist. Das ist erstaunlich. Ist doch die Welt aktuell auch sonst nicht gerade nachrichtenarm. Viel erstaunlicher aber ist die Reaktion der Politik und der Weltöffentlichkeit: Die USA suchen verzweifelt nach einem Grund, Assange vor Gericht zu bringen. Amazon verjagt Wikileaks von seinen Servern. Visa und Mastercard versperren der Plattform die Finanzkanäle. Und in der öffentlichen Diskussion gilt Assange bereits jetzt als Krimineller.
Ist Assange wirklich kriminell? Mag schon sein. Niemand wäre jedoch auf die Idee gekommen, die beiden Journalisten in der Watergate-Affäre seinerzeit als Kriminelle anzuklagen – und das, obwohl sich ihre Recherchen ebenfalls auf Informationen aus einem Behördenleck stützten und immerhin einen US-Präsidenten den Kopf kosteten. Stattdessen wurde das Hohelied des investigativen Journalismus gesungen.
Heute scheint sich der Bewertungsmaßstab geändert zu haben. Nun gut: Assange ist kein Journalist. Er veröffentlicht Dokumente, ohne sie zu hinterfragen, einzuordnen, zu bewerten. Das mag man kritisieren. Ebenso die Tatsache, dass er sich – angesichts des brisanten Inhalts der Dokumente – ganz unzweifelhaft verantwortungslos verhält. Dennoch: Ist Assange wirklich kriminell? Er hat nur eine Wahrheit veröffentlicht, die andere geschaffen haben.
Ich meine, der Hund liegt woanders begraben. Die reflexartige Drohgebärde der USA und nicht zuletzt der Polit-Druck auf den Online-Giganten Amazon sind eher eine Übersprungshandlung, der letztlich etwas ganz anderes zugrunde liegt: eine gewisse Hilflosigkeit nämlich, und ein unbestimmtes Unbehagen, mit dem Internet könne uns eine Technologie erwachsen sein, der wir nicht gewachsen sind. Nicht zuletzt, weil wir wissen, dass Kriege im Informationszeitalter mit Informationen geführt werden, nicht mit Panzern.
Auflösen lässt sich diese Janus-Köpfigkeit des Internets nicht: Alle bahnbrechenden Technologien, die der Mensch hervorgebracht hat, lassen sich zum Guten wie zum Schlechten einsetzen. Und beide Optionen hat der Mensch – jedes Mal – genutzt. Das eigentlich Fatale war in der Regel, dass die Technologie sich schneller entwickelt hat als das ethische Verständnis vom Umgang mit ihr, als ein Verantwortungsbewusstsein in der Gesellschaft und – natürlich – als die Gesetzgebung. Und so bleibt uns nur, dafür zu sorgen, dass der Prozess sich diesmal umkehrt: dass Ethik und Recht schneller am Zuge sind als die dunkle Seite.
Doch gerade die Reaktion von Amazon birgt auch für die Entwicklung des IT-Marktes ein großes Risiko. Der Provider hat die Cloud-Dienste für Wikileaks – also die Serverleistung, die er der Enthüllungsplattform via Internet zur Verfügung stellte – ganz einfach gekappt. Die Begründung: Wikileaks habe gegen die Geschäftsbedingungen verstoßen. Schlechte Nachrichten für das neue IT-Paradigma Cloud Computing. Wenn ein Provider seinen Dienst so ohne weiteres einstellen kann, allein auf Basis des Vorwurfs eines Vertragsverstoßes, dann redet er genau jenen Zweiflern das Wort, die Sicherheit und Verfügbarkeit von Cloud Services in Frage stellen.
Mag Amazon seine Anschuldigung auch beweisen können – und mit ein bisschen juristischer Spitzfindigkeit ist das sicher möglich – so bleibt doch ein schaler Nachgeschmack. Wohin soll das führen? Sollen Provider von Cloud Services künftig fortwährend überprüfen, ob einer ihrer Kunden auf ihren Servern einer missliebigen Tätigkeit nachgeht – und immer wieder aufs Neue entscheiden, ob sie gewillt sind, den Service fortzusetzen? Man muss kein Anhänger von Wikileaks sein, um dies bedenklich zu finden. Und auch der eine oder andere potenzielle Kunde für Cloud-Computing-Dienste wird, so fürchte ich, an dieser Stelle aufgehorcht haben – und sich genau überlegen, ob er sich erlauben kann, seine IT in solch ein Abhängigkeitsverhältnis zu verlagern. Cloud Computing wird einen Imageschaden davontragen. Für die IT ist das die eigentliche Tragik.
... kam nach Stationen bei IBM und Siemens Nixdorf 1999 zu Fujitsu Siemens Computers. Im Februar 2002 wurde er dort CTO. Diese Position hat er auch beim Nachfolgeunternehmen Fujitsu Technology Solutions inne. Reger studierte in Ungarn, Norwegen und Deutschland Physik, Mathematik und Computerwissenschaften. Seinen Doktor in theoretischer Physik machte er 1985 in Köln. Anschließend war er drei Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der University of California in Santa Cruz.
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