Marc Wilkens ist frustriert. Seit über zwei Jahren arbeitet der Diplom-Ingenieur als Projektleiter am Institut für Informations- und Kommunikationstechnologie der Technischen Universität Berlin an der Vergabegrundlage für den Blauen Engel für Rechenzentren. Seit September 2011 ist es soweit: Datencenter können sich mit dem Gütesiegel, das es schon seit 1978 hauptsächlich für Konsumgüter gibt, als besonders energieeffizient auszeichnen lassen.
Die Vergabegrundlage ist ehrgeizig. Um nur einige Kriterien zu nennen:
- Die Energy Usage Effectiveness (EUE) des Rechenzentrums muss einem PUE-Wert von 2 entsprechen.
- Das Energiemanagement muss in Anlehnung an DIN EN 16001 erfolgen.
- Der durchschnittliche Virtualisierungsgrad muss größer sein als 2.
- Die Energy Efficiency Ratio (EER) muss für alle Kälteanlagen größer als 4 sein.
- Der Rechenzentrumsbetreiber muss die elektrische Leistung und den Strom- beziehungsweise Energiebedarf der wesentlichen Komponente des Rechenzentrums kontinuierlich überwachen.
Doch wie so oft, schmeckt die Realität wie abgestandenes Bier. Nach den ersten Zertifizierungserfahrungen musste der Diplom-Ingenieur ernüchtert feststellen, dass kaum ein Rechenzentrum die gestellten Ansprüche erfüllen kann.
Stromverbrauch messen? Das macht keiner
Marc Wilkens, Projektleiter am Institut für Informations- und Kommunikationstechnologie der Technischen Universität Berlin (Bild: TU Berlin).
Ein Beispiel: Die Überwachung des Strombedarfs. Dieses Kriterium war Wilkens besonders wichtig, weil kein anderes Gütesiegel, diese Maßnahme explizit verlangt. Aber: „Die Hürde ist momentan zu hoch. Kaum ein Rechenzentrum ist in der Lage, Daten über den Energieverbrauch zu liefern. Sie wissen es einfach nicht.“ Diese Einschätzung bestätigt auch eine aktuelle, europaweite Umfrage im Auftrag von Oracle. Im Rahmen des Next Generation Data Center Index gab kaum eines der 950 befragten Unetrnehmen an, dass es den Energieverbrauch seines Rechenzentrums kontinuierlich beobachtet.
Das Problem ist dabei nicht die Technik: Stromzähler an verschiedenen Messpunkten anzubringen, ist relativ einfach. Es hakt in der Organisation. Noch immer bezahlt der IT-Leiter seinen Strom nicht selbst. Die Verantwortung liegt beim Gebäudemanagement. „Im öffentlichen Sektor funktioniert die Zusammenarbeit ganz gut“, weiß Wolfgang Schwab, Schwab Senior Advisor und Program Manager Efficient Infrastructure bei der Experton Group. „In der Industrie ist das Gebäudemanagement üblicherweise der Feind der IT.“
Der Blaue Engel für Rechenzentren – eine Totgeburt? (Bild: Der Blaue Engel).
Zwar hätten sich die beiden Bereiche angenähert, wie Rakesh Kumar, Vice President beim Analystenhaus Gartner, beobachtet, da die Energiekosten und die Energieverfügbarkeit in den letzten vier, fünf Jahren deutliche Auswirkungen auf die Betreiber gehabt hätten. Aber: „Optimal ist es noch nicht.“
Starkes Gütesiegel, schwacher Rückhalt
Ist die Vergabegrundlage zu ehrgeizig? Sind die Auflagen zu streng? „Nein“, meint Experton-Analyst Schwab. „Der Bewertungsumfang ist groß genug, die einzelnen Komponenten werden grob bewertet und man sieht sofort, was gut und was schlecht ist.“ Schwabs einziger Kritikpunkt: „Der IT-Teil mit Servern, Storage und Softwaretools hätte noch detaillierter sein können.“
Für Gartner-Analyst Kumar wird die Vergabegrundlage den allgemein hohen Ansprüchen beim Blauen Engel gerecht. „Es fehlt ihm aber eine starke Autorität im Rücken, um ihn als Standard-Gütesiegel durchzusetzen.“ Kumar hält den von der Europäischen Union aufgelegten Verhaltenskodex zur Energieeffizienz in Rechenzentren (PDF) für stärker. Er glaubt deshalb, dass sich nur wenige Rechenzentrumsbetreiber für den Blauen Engel entscheiden werden.
Bei Gütesiegeln fragt man sich ohnehin grundsätzlich immer, wieso sich die Betreiber oder Hersteller die Vergabetortur überhaupt antun sollen? Wer braucht einen Blauen Engel? Projektleiter Wilkens verweist auf die Zukunft. „Im Moment sind die Kosteneinsparungen nicht besonders attraktiv. Noch zahlt der Kunde den Strom. Aber im Zuge der Energiewende wird der Preis sicherlich steigen.“ Und dann könne besondere Energieeffizienz durchaus ein Argument werden. „Darauf sollten die Betreiber vorbereitet sein.“
„Das interessiert keinen Menschen“
Und wen interessiert Energieeffizienz sonst noch? Bei Konsumgütern signalisiert das Gütesiegel Verbrauchern, dass sie sich für ein besonders umweltfreundliches Produkt entscheiden. Für manchen ist das ausschlaggebend für die Kaufentscheidung. „Bei Investitionsgütern wie Rechenzentren interessiert das keinen Menschen“, sagt Schwab. „Im Moment können die Betreiber ein bisschen Marketing und Imagewerbung damit machen. Aber es gibt kein Unternehmen, dessen Lieferanten im IT-Bereich grün sein müssen, um ins Geschäft zu kommen. Energieeffizienz wird deshalb immer eine Frage des Aufwands und der Kosten sein. Wenn die sich in Grenzen halten, werden IT-Leiter darüber nachdenken. Den Riesenmarkt sehe ich nicht.“
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Strom ist derzeit also immer noch zu billig, als dass er tatsächlich zu einem entscheidenden Argument wird. Die einzigen, die vom Strompreis wirklich abhängig sind, sind die Internethoster. Aber die feilschen momentan lieber noch um gute Konditionen mit den Energieversorgern, statt vor der eigenen Haustür zu kehren.
In München forschen Intel und T-Systems nunmehr seit zwei Jahren an Möglichkeiten, die Effizienz von Rechenzentren zu verbessern. Rainer Weidmann, Leiter des DataCenter 2020, erklärt ZDNet vor Ort Ergebnisse und künftige Ziele.
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